Es geschah am Samstag, 22. September 2018. Pascal und Lydia verbrachten gerade ihre Ferien bei Pascals Schwester in Salvan. Nachdem sie eine Helikopter-Flugshow besucht und Pizza gegessen hatten, kehrten sie für einen kurzen Mittagsschlaf in die Wohnung zurück. Als Lydia aufwachte, sass Pascal am Bettrand, hielt seine Unterhose in der Hand und wiederholte immer wieder: «Verdammte Hand …» Lydia wusste sofort, dass etwas nicht stimmte und brachte ihn ins Spital von Martigny. Von dort aus wurde er notfallmässig ins Spital von Sion und dann ins Universitätsspital Lausanne (CHUV) verlegt. «Du bist in dem Helikopter geflogen, den du vorher fotografiert hattest. Der Pilot hat dich an deinem schwarzen Hut erkannt», erzählt Lydia und schaut Pascal direkt in die Augen, um seine Erinnerungen zu wecken. Im Spital war Pascal inkontinent und weil seine Zunge gelähmt war, konnte er nicht schlucken. Er sprach auch nicht. «Nur mit den Augen», sagt Lydia. Später wurde Pascal in die Berner Rehaklinik in Montana verlegt.
Pascal hatte einen ischämischen Schlaganfall erlitten: Ein Blutgerinnsel hatte eine seiner Arterien verstopft. Bis heute leidet er unter diversen Folgen, darunter eine rechtsseitige Hemiplegie. «Der rechte Arm ist futsch», so Pascal. Er spürt nicht mehr, ob sein Gewicht ganz oder teilweise auf seinem rechten Fuss lastet, wird rasch müde, ist impulsiv und hat kaum noch Lust auf irgendetwas. Auch sein Gedächtnis ist beeinträchtigt. Anfangs erkannte er nur Lydia. «Ich habe Poster mit seiner Schwester, dem Freund und ihren Verbindungen zu ihm aufgezeichnet», erinnert sie sich. Ein weiteres Problem ist die Aphasie. Die Worte bilden sich zwar in Pascals Kopf, aber er hat Mühe, sie auszusprechen. Das behindert ihn am meisten.
Sich anpassen und anders kommunizieren
Da Pascal seit Geburt auf einem Ohr taub ist, hatten Lydia und er schon vorher ihre eigene Gebärdensprache entwickelt. Die Aphasie zwingt sie nun aber, noch weiter zu gehen. Pascal zeigt einen von Adeline – der Fachfrau Betreuung – vorbereiteten Ordner mit Infografiken, die ihn bei der Kommunikation unterstützen sollen. Den Reflex, Fotos auf einem Bildschirm mit den Fingern zu vergrössern, hat Pascal bewahrt. Deshalb erhielt er von der IV ein Tablet zur Ausleihe. Lydia speicherte Anekdoten aus ihrem Leben darauf und Pascal einen Satz, der seine Gefühlswelt zusammenfasst: «Ich spreche nicht mehr, aber man soll mich nicht für einen Idioten halten.» Der Umgang mit dem Tablet ist für Pascal aber leider zu schwierig.
Die Kommunikation zwischen Pascal und Lydia ist einfacher, wenn sie in Ruhe miteinander sprechen, einander direkt anschauen und sich Zeit nehmen, «damit die Worte oben ankommen», wie Pascal es ausdrückt. «Ich muss geschlossene Fragen stellen, damit er mit Ja oder Nein antworten kann. Wenn er die Stirn runzelt, formuliere ich die Frage um. Wir behelfen uns mit Gesten, Zeichen und Mimik, als wären wir beide taub», fügt Lydia hinzu. «Pascal hat noch nie jemanden um Hilfe gebeten. Jetzt fängt er damit an, aber es fällt ihm schwer.» Pascal stimmt dem mit einem lauten «Ja» nachdrücklich zu.
Was Computer anbelangt, so kann Pascal dank ergotherapeutischer Unterstützung und viel Üben die Maus wieder nutzen, was die Ärzte überrascht hat. Ein Freund hat zudem Pascals Kamera so angepasst, dass er alles mit einer Hand bedienen kann. So kann er nun wieder seiner Leidenschaft für die Fotografie frönen. Er hält alles fest, was fliegt – vor allem Flugzeuge –, und kann danach seine Fotos am Computer bearbeiten.
Zwei Leben, in denen nichts mehr ist wie vorher
Lydia fasst ihre Erfahrungen so zusammen: «Ein fürchterlicher Schlag und auch sieben Jahre später sind wir noch fassungslos.» Pascal konnte seine Arbeit in der Druckerei nicht wieder aufnehmen und er vermisst den Kontakt mit anderen Menschen. Lydia kann ebenfalls nicht mehr als Pflegefachfrau arbeiten, weil sie unter Konzentrationsschwierigkeiten leidet und weniger gut mit Stress umgehen kann. Das sind die Folgen des posttraumatischen Schocks, den sie nach Pascals Schlaganfall erlitten hat. AsFam – eine Vereinigung, die die Arbeit von pflegenden Angehörigen anerkennt und entlöhnt – bezahlt ihr heute den Lohn für eine Arbeitsstunde pro Tag. «Ich bin zur Pflegerin geworden, auch wenn ich in erster Linie seine Frau bin», stellt sie nüchtern fest.
Lydia kämpft für ihren Mann, für sich selbst und ihre Beziehung. Und dies oft gegen den Rat anderer, wie der Sozialarbeiterin, die Pascal nach der Reha in ein Heim geben wollte, oder einiger Menschen aus ihrem Umfeld, die sagten: «Du kannst ihn nicht ewig pflegen. Gib ihn in ein Heim und fang ein neues Leben an.» Aber Lydia und Pascal lieben sich trotz aller Widrigkeiten und beschlossen, am 26. Februar 2022 zu heiraten.
Was Pascal und Lydia heute Mühe macht, ist die Einsamkeit. Sie haben nur wenige soziale Kontakte und fühlen sich wegen Pascals Aphasie von ihren Bekannten abgelehnt. Sind sie müde, ist die Kommunikation am schwierigsten, sogar mithilfe des Kommunikationsordners. Pascals Schlaganfall hat das Leben der beiden auf den Kopf gestellt: Sie sind in eine behindertengerechte Wohnung gezogen und haben ein angepasstes Auto und einen spezialisierten Roller gekauft. Hinzu kommt, dass sich Lydia weiterhin um alles allein kümmern muss. Von nun an lautet das Motto des Paares: «Jeder vergangene Tag ist ein gewonnener Tag.»
Das Geschehene verstehen und Unterstützung finden
Pascal und Lydia haben in einer Radiosendung von FRAGILE Valais erfahren. Danach besuchte Lydia eine Gesprächsgruppe für Angehörige und Familien. Die Aussage einer betroffenen Person, die unter impulsiven Ausbrüchen leidet, hat sie besonders bewegt. Sie bedauert, nicht schon früher von FRAGILE Suisse gehört zu haben: «Als alles passiert ist, hätte ich mir gewünscht, etwas Schriftliches zu haben. Ich verstand überhaupt nichts mehr.»
Wenn sich das Paar anblickt, sieht man sofort, dass sie sich auch ohne grosse Worte verstehen. Pascal mit seiner Passion für Rockmusik und Flugzeuge lächelt verschmitzt, als Lydia seine Hand nimmt und seine Schulter streichelt: «Seit sieben Jahren haben wir unsere kleinen Routinen», fasst sie zusammen. «Und heute sind wir noch enger miteinander verbunden als zuvor.»
Text: Sophie Roulin-Correvon, Fotos: Valérie Baeriswyl
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