«Wenn etwas nicht geht, machen wir’s eben anders»

Für Mike Berchtold beginnt nach der Hirnverletzung seiner Frau eine schwere Zeit voller Zweifel, Hoffnung und Liebe. Fünf Jahre später blickt er zurück – auf einen Weg, der zwar anders verläuft als geplant, aber zu einem neuen Miteinander geführt hat.

Für Mike Berchtold beginnt nach der Hirnverletzung seiner Frau eine schwere Zeit voller Zweifel, Hoffnung und Liebe. Fünf Jahre später blickt er zurück – auf einen Weg, der zwar…

Ein Mann schneidet eine Kartoffel in dünne Scheiben.

 

Als Sabine Peitsch am 29. April 2020 bei der Arbeit über Rückenschmerzen klagte und ihren Mann, Mike Berchtold, bat, sie abzuholen, ahnte niemand, dass dieser Tag alles verändern würde. Keine Stunde später lag sie bewusstlos auf dem Boden, ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Mike handelte instinktiv. Er zog sie aus dem engen Büro, begann mit der Herzdruckmassage. 25 Minuten lang kämpfte er gegen die Stille, gegen die Angst, gegen das Gefühl, sie zu verlieren. Die Reanimation war erfolgreich – zumindest medizinisch. Doch zurück blieb die grosse Ungewissheit: Wie viel von der alten Sabine würde bleiben? Die Antwort: genug, um neu anfangen zu können. Aber nicht genug, um da weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten.

Heute, fünf Jahre später, sagt Mike: «Nicht nur Sabine hat damals ein neues Leben begonnen. Auch ich.» 36 Tage lag Sabine im Koma. Mike durfte sie wegen der Corona-Massnahmen nur jeden zweiten Tag besuchen. Er sass an ihrem Bett, hielt ihre Hand, sprach mit ihr, obwohl keine Reaktion kam. Die Ärzte waren skeptisch. Manche sprachen davon, dass keine Hirnaktivität mehr messbar sei, dass Sabine nicht mehr lebensfähig sein werde. «Das war eine zermürbende Zeit. Ich fühlte mich oft allein gelassen, als wäre ich der Einzige, der noch Hoffnung hatte.»

Veränderungen im Alltag und Umfeld

Dann, am 37. Tag in der Rehaklinik Bellikon, die Wendung: Die Tür öffnete sich automatisch, Sabine sass im Rollstuhl, sah Mike an und sagte: «Hoi!» – einfach so. Für Mike war es wie ein Wunder. «Ich bin auf die Knie gefallen und habe sie umarmt. Sie war wieder da.» Aber das Happy End war damit nicht erreicht – sondern erst der Anfang eines mühsamen, langsamen, fordernden Weges.

Sabines Hirnschädigung veränderte vieles. Sie musste Sprache, Motorik und alltägliche Abläufe neu erlernen. Eine der ersten Übungen: Tierbilder benennen. Ein Elefant lag vor ihr – das Wort wollte nicht kommen. Diese Erfahrung kratzte an ihrem Selbstwertgefühl. «Das hat sie sehr verletzt», erinnert sich Mike.

Nach fünf Monaten in der Reha wollte sie zurück an ihren alten Arbeitsplatz, als Leiterin der Wäscherei in der Stiftung Schloss Biberstein. Drei Tage lang probierte sie es – danach war klar: Es geht nicht mehr. Die Belastung war zu hoch, der Druck zu gross. Die Arbeit, die einst Routine war, wurde zur Überforderung.

Mit dem Verlust ihres Berufs verlor Sabine auch ihr soziales Umfeld. Freunde zogen sich zurück. «Für viele ist es schwer zu verstehen, dass Sabine nicht mehr die alte ist – obwohl sie so aussieht wie früher», sagt Mike. «Zu viert an einem Tisch sitzen? Für sie extrem anstrengend. Gespräche parallel mitzuverfolgen, das schafft sie nicht mehr.»

Der Alltag in neuem Tempo

Mike übernimmt heute vieles, was Sabine nicht mehr kann – administrative Aufgaben, Termine, auch die Struktur des Alltags. «Sie braucht einen klaren Ablauf. Ich koche, wie schon immer, aber jetzt ist es wichtig, dass das Essen pünktlich bereitsteht.» Er spricht nicht mit Resignation darüber, sondern mit Wärme. Überhaupt ist Mike jemand, der Verantwortung mit grosser Würde trägt. «Sabine ist langsamer geworden – also bin ich es auch.» In seinem Beruf hat er das Pensum reduziert, die Prioritäten verschoben.

Am Abend parkt er das Auto bewusst einen Kilometer unterhalb ihres Hauses, das er am Waldrand selbst gebaut hat. Den Weg nach Hause geht er zu Fuss – nicht aus Pflicht, sondern aus Überzeugung. «So lasse ich den Arbeitstag hinter mir und stelle mich wieder auf Sabines Tempo ein.» Vor dem Herzinfarkt war das Leben von Mike und Sabine geprägt von Arbeit und Routine. «Wir haben zwar Dinge zusammen unternommen, zum Beispiel Bogenschiessen – sogar an Schweizer Meisterschaften – aber der Alltag war eher ein Nebeneinander.»

Heute ist vieles anders. Nähe ist nicht mehr selbstverständlich, sondern bewusst gewählt. Gespräche sind intensiver, das Vertrauen tiefer. «Ich weiss nicht, ob wir heute noch zusammen wären, wenn das nicht passiert wäre. Aber jetzt hören wir einander zu, gehen mehr aufeinander ein», so Mike. Sabines Lieblingsspruch: «Wenn etwas nicht geht, machen wir’s eben anders.» Ein Satz, der mittlerweile ihr gemeinsames Mantra geworden ist.

Achtsamkeit, auch mit sich selbst

In dieser neuen Rolle als Angehöriger hat Mike viel über sich selbst gelernt. «Man darf sich selber nicht vergessen», sagt er. Das sei eine seiner wichtigsten Erkenntnisse. Er erinnert sich an einen Arzt, der ihm riet, fünf Tage lang nicht ins Spital zu kommen, um wieder zu sich zu finden. «Ich bin damals mit einem Freund weg – das war das Beste, was ich tun konnte.» Heute gibt Mike seine Erfahrungen an andere weiter, in einer von FRAGILE Aargau/Solothurn Ost organisierten Selbsthilfegruppe für Angehörige. «Viele stehen noch ganz am Anfang. Ich will ihnen sagen: Ihr seid nicht allein.» Er betont, wie wichtig es sei, Hilfe anzunehmen. Und wie entlastend es sein kann, nicht immer alles allein schaffen zu wollen.

Sabine wird wohl nie mehr ganz so sein wie früher – aber sie ist da. Und sie lebt. Auch Mike lebt. Bewusster, langsamer, ehrlicher. Sie basteln, spazieren, lachen, streiten auch mal. Sie haben das Leben nicht zurückgewonnen. Sie haben sich ein neues geschaffen. «Wenn ich sehe, wie sie heute mit kleinen Dingen glücklich ist, dann weiss ich: Das Leben ist nicht vorbei – es hat einfach eine neue Richtung eingeschlagen.»


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In den Selbsthilfegruppen für Betroffene und/oder Angehörige, die von den elf Regionalvereinigungen durchgeführt werden, steht dieser Austausch im Zentrum. Profitieren Sie von den Erfahrungen anderer, teilen Sie Ihre Geschichte und knüpfen Sie neue Kontakte. Sie sind nicht allein! Mehr dazu unter: www.fragile.ch/regionen


Text: Carole Bolliger, Fotos: Markus Hässig

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