Worum geht es beim Schweizer Sozialversicherungssystem?
Das schweizerische Sozialversicherungssystem ist sehr komplex und besteht aus vielen verschiedenen Versicherungen. Ziel ist es, die Bevölkerung vor Risiken wie Alter, Krankheit, Unfall, Invalidität und Arbeitslosigkeit zu schützen. Es basiert auf dem 3-Säulen-Prinzip (Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge) sowie weiteren obligatorischen und freiwilligen Versicherungen. Diese decken beispielsweise Behandlungskosten, Taggelder bei Ausfall infolge Krankheit oder Unfall. Hinzu kommen Leistungen für Hilfsmittel, Ergänzungsleistungen und andere.
Es gibt also für ziemlich alles eine Versicherung. Warum ist das System trotzdem so komplex?
Es gibt tatsächlich sehr viele Versicherungen – teils obligatorisch, teils freiwillig. Deshalb muss jede Situation individuell beurteilt werden. Zum Beispiel macht es einen Unterschied, ob man einen Unfall oder eine Krankheit hatte. Und auch das korrekte und fristgerechte Vorgehen ist von grosser Bedeutung. Nehmen wir ein Beispiel:
Frau A. erlitt bei einem Sturz ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma. Nach einem kurzen Spitalaufenthalt wird sie wieder entlassen. Gegen ihren Schwindel bekommt sie Physiotherapie verschrieben. Zuhause bei ihren Kindern startet sie normal in ihren Alltag. Sie ist noch drei Wochen krankgeschrieben, danach beginnt sie wieder zu arbeiten. Erst dann bemerkt sie, dass sie immer noch geschwächt ist, ihr Körper und ihr Kopf mehr Zeit benötigen als früher. Sie versucht, alles etwas langsamer anzugehen, kämpft sich monatelang durchs Leben. Doch die andauernde Müdigkeit und Erschöpfung nehmen immer weiter zu. Frau A. fühlt sich nicht mehr in der Lage, alles zu bewältigen. Sie entscheidet sich, ihr Arbeitspensum zu reduzieren, damit sie noch Zeit und Energie für den Haushalt und ihre Kinder hat. Wieder verstreichen Wochen, in denen die Situation gleich belastend bleibt. Bis sich Frau A. von ihrem Hausarzt krankschreiben lässt.
Da zwischen der Hirnverletzung und ihrem letzten Arztbesuch mehrere Monate liegen, stellen sich nun viele Fragen, die mit dem richtigen Vorgehen unter Umständen zu vermeiden gewesen wären. Beispielsweise hätte Frau A. ihr Pensum nicht ohne Krankschreibung reduzieren sollen. Hinzu kommen die Fragen, ob ihr Zustand tatsächlich auf das Schädel-Hirn-Trauma zurückzuführen ist, oder ob sie unter einer Erschöpfungsdepression leidet. Und welche Versicherung denn nun zahlt.
Gutes Stichwort: Wer zahlt nach einer Hirnverletzung?
Obwohl unser Sozialversicherungssystem umfangreich ist, gibt es auch Lücken und der teils hohe Selbstbehalt geht häufig vergessen, insbesondere im ersten Jahr nach einer Hirnverletzung oder einem anderen Ereignis. Leistungen der AHV und der IV können dabei unterschiedliche Fristen haben (teils über ein Jahr), – die Finanzierung institutioneller Wohnformen ist aber meist an eine entsprechende Rente gebunden. Zudem gibt es in diesem sogenannten Wartejahr auch noch keine Möglichkeit für Hilflosenentschädigung (HE). Ausser vor dem AHV-Alter besteht ein früherer Anspruch (Anmeldung bereits nach 6 Monaten möglich). Somit müssen die Betroffenen in diesem Zeitraum selbst für die Kosten aufkommen. Durch den Arbeitsausfall müssen sie aber oft mit deutlich weniger Einkommen klarkommen, und Versicherungen wie beispielsweise das Krankentaggeld sind bis heute nicht obligatorisch. Aufgrund der multiplen Folgen, wie dauerhafte Müdigkeit und Erschöpfung, sind Betroffene auf Entlastungsangebote wie eine Haushaltshilfe angewiesen, was wiederum höhere Ausgaben mit sich bringt. Hinzu kommt, dass oft mehrere Versicherungen involviert sind. Die Krankenkasse oder die Unfallversicherung kommt beispielsweise für die Behandlungskosten auf, je nachdem sprechen sie auch Gelder für Therapien oder eine Reha. Entlastungsangebote werden teils von den Zusatzversicherungen übernommen, Hilfsmittel u. a. von der IV oder der AHV. Das Schwierige ist, dass Versicherungen immer zurückhaltender werden. Was zur Folge hat, dass tendenziell auch weniger Leistungen gesprochen werden. Nach einer Hirnverletzung sind Zeit und Geduld aber essenziell – genauso wie langfristige Therapie- und Unterstützungsangebote.
Woran muss man nach einer Hirnverletzung denken?
Anmeldungen für Leistungen erfolgen NICHT automatisch. Man hat hier als betroffene Person eine Holschuld und muss sich selber aktiv darum kümmern (oder jemanden damit beauftragen). Wir empfehlen, dass man im ersten Halbjahr nach der Hirnverletzung alle drei Säulen sowie die zusätzlichen Versicherungen im Blick hat und diese telefonisch oder per E-Mail anfragt, ob, wann und was man konkret machen muss.
Was würden Sie Menschen mit einer Hirnverletzung und ihren Angehörigen raten?
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Hilflosenentschädigung sowie Lebensversicherungen und andere Zusatzversicherungen oft vergessen gehen. Eine Übersicht der eigenen Versicherungen sowie einen Zeitplan zu erstellen, lohnt sich daher sehr, damit man frühzeitig Kontakt aufnehmen und allfällige Ansprüche prüfen kann. Gewisse Leistungen kommen erst zum Tragen, wenn beispielsweise eine IV-Rente gesprochen wurde. Dennoch ist eine Meldung extrem wichtig – denn nichts passiert automatisch.
Eine nützliche Checkliste dazu gibt es hier: www.fragile.ch/sozialversicherungen/checkliste
Wer unsicher ist, kann sich auch beraten lassen.
Genau. Betroffene sowie ihre Angehörigen können sich bei Bedarf kostenlos bei FRAGILE Suisse zu allen Leistungen der AHV/IV beraten lassen und erhalten Unterstützung bei der Anmeldung von Leistungen. Sollte man unsicher sein, ob man an alles gedacht hat, empfehlen wir professionelle Begleitung. Es gibt in der Schweiz ein sehr breites Beratungsangebot – unter anderem bei FRAGILE Suisse. Wichtig ist, dass man den Mut fasst und sich an eine entsprechende Stelle wendet.