«Ich bin im Reinen mit der Person, die ich geworden bin»

Am 25. April 2015 erlitt Chloé Buchmann Sanroma im Alter von 38 Jahren einen Schlaganfall: ein Ereignis, welches das Leben der Ehefrau und Mutter zweier Kinder völlig auf den Kopf gestellt hat. Seither lebt sie mit den unsichtbaren Folgen, hat aber auch neue Leidenschaften entdeckt.

Am 25. April 2015 erlitt Chloé Buchmann Sanroma im Alter von 38 Jahren einen Schlaganfall: ein Ereignis, welches das Leben der Ehefrau und Mutter zweier Kinder völlig auf den Kopf…

Fotografin : Valérie Baeriswyl

Mit 38 Jahren war Chloé Mutter von zwei kleinen Kindern und hatte gerade ihren Job als Erzieherin gekündigt, weil die Beziehungen im Team schwierig waren und viel Stress und Unzufriedenheit in ihr ausgelöst hatten. Einen Tag nach ihrem letzten Arbeitstag nahm sie am 20KM de Lausanne, einem Lauf über 20 Kilometer, teil. Wieder zu Hause, bekam die Läuferin heftige Kopfschmerzen, und als sie ihre Kontaktlinsen herausnehmen wollte, konnte sie ihre Hand nicht mehr sehen. In diesem Moment war Chloé nicht bewusst, was mit ihr los war. Sie dachte, sie hätte wegen der körperlichen Anstrengung einen Schwächeanfall erlitten. Da sie nicht sonderlich besorgt und überzeugt war, dass die Kopfschmerzen wieder verschwinden würden, wartete sie zwei Tage, bevor sie ihre Hausärztin anrief. Diese ordnete sofort ein MRI an und Chloé wurde in die Notaufnahme des CHUV eingeliefert. Als ihr Mann im Spital eintraf und erfuhr, dass seine Frau einen Schlaganfall erlitten hatte, wurde er ohnmächtig. Erst dann begriff Chloé, wie gravierend ihr Zustand war. Ausgelöst wurde ihr Schlaganfall durch eine Karotisdissektion, einen Riss in der Halsschlagader.

Die Neuropsychologin eröffnete Chloé, dass sie ihren bisherigen Beruf nicht mehr würde ausüben können. «Im ersten Moment war das sehr hart. Aber mit etwas Abstand realisierte ich, dass ich die nötige Konzentration und Ausdauer nicht mehr hatte», erzählt sie. Acht Jahre später und nach einer zweiten Karotisdissektion ohne Schlaganfall wurde bei ihr eine seltene Gefässerkrankung des Bindegewebes diagnostiziert.

Heute bezieht Chloé eine IV-Rente, ist Praxisausbildnerin für angehende Erzieher:innen und arbeitet zu 20 Prozent als Sozialpädagogin in einem Eltern-Kind-Treffpunkt – eine Tätigkeit, die sie erfüllt. Denn als Erzieherin hatte sie sich früher oft mehr Kontakt mit den Eltern der Kinder gewünscht. «Alles, was im Leben geschehen soll, geschieht, und nach jedem Rückschlag kommt Wunderbares», sagt sie philosophisch.

Keine Grenzen mehr

Der Schlaganfall hat bei Chloé nur ganz wenige körperlich sichtbare Folgen hinterlassen. Ihre Augen brauchen lange, um sich anzupassen, wenn sie von einem hellen Ort in einen dunklen Raum kommt. Manchmal hat sie auch ein Schwächegefühl in den Armen und Beinen, wodurch sie Gegenstände fallen lässt oder stolpert. Die Liste der unsichtbaren Folgen ist hingegen viel länger: chronische Müdigkeit, Desorganisation, Aufmerksamkeits- und Sprachprobleme. «Manchmal habe ich Schwierigkeiten mit Wörtern. Ich sage Gürtel statt Würfel, nur weil beide Wörter mit dem gleichen Laut beginnen und mehr oder weniger ähnlich sind», erklärt sie. Was ihr ebenfalls auffällt: Sie verliert schneller die Geduld und hat weniger soziale Filter.

Nach ihrem Schlaganfall beschloss Chloé, sich keine Grenzen mehr im Leben zu setzen. Unter dem Künstlernamen Sydonie Grey begann sie als 45-Jährige mit Burlesque – etwas, was sie schon immer gereizt hatte. «Mein Schlaganfall hat mir bewusst gemacht, wie kostbar, aber auch zerbrechlich das Leben ist. Ich habe alle Verbote, die ich mir bis dahin auferlegt hatte, über Bord geworfen.» Beim Burlesque – ihrer neuen Leidenschaft – blüht sie auf, auch wenn es für sie schwierig ist, sich die komplexen Choreografien zu merken und sie auszuführen: «Das ist schon für Menschen ohne Hirnverletzung nicht einfach. Stellen Sie sich das mal für mich vor!» Sie ist ein gläubiger Mensch und Gott dankbar, dass sie noch am Leben ist. Als 40-Jährige verspürte sie das Bedürfnis, sich konfirmieren zu lassen und absolvierte die Ausbildung zur Katechetin, um ihren Glauben mit anderen Menschen zu teilen.

Das Gefühl, keinen Anspruch zu haben

Nach ihrer Rückkehr nach Hause musste Chloé sich mit dem fehlenden Verständnis ihrer Angehörigen für die unsichtbaren Folgen ihres Schlaganfalls auseinandersetzen. Seit dem Ereignis fällt es ihr beispielsweise schwer, sich um ihre Kinder zu kümmern. Hinzu kommt, dass diese grösser werden und ihre Grenzen ständig austesten, was sie oft an ihrer Rolle als Mutter und ihrer Glaubwürdigkeit zweifeln lässt.

Der Familienalltag gestaltete sich ebenfalls kompliziert: Chloé konnte nicht mehr arbeiten, erhielt anfänglich aber keine Unterstützung. Die Ersparnisse schwanden dahin und das Paar musste einen Kredit aufnehmen. Zwei Jahre nach ihrem Schlaganfall wurde die Lage schliesslich erträglicher, als Chloé von ihrer Hausärztin erfuhr, dass sie Anspruch auf eine IV-Rente hatte: «Niemand hatte mich auf die IV aufmerksam gemacht. Ich war überzeugt, keinen Anspruch zu haben, weil ich dachte, dafür müsse man im Rollstuhl sitzen.» Das Problem war die fehlende Kommunikation und Koordination zwischen Gesundheitswesen und Arbeitswelt. Die Ärzt:innen gingen davon aus, dass Chloés Arbeitgeber einen IV-Antrag stellen würde und wussten nicht, dass die junge Frau kurz vor ihrem Schlaganfall gekündigt hatte. Letztlich war sie es, die für die verspätete Einreichung ihres IV-Antrags bestraft wurde.

Ihr Umfeld vergisst oft, dass Chloé einen Schlaganfall hatte. «Ich habe das Gefühl, dass meine Angehörigen die Folgen herunterspielen oder mich für faul halten», vertraut sie uns an. «Am schwersten zu ertragen ist sicherlich die Reaktion meines Vaters, der kurz nach meinem Schlaganfall beschlossen hat, mich aus seinem Leben zu streichen.» Chloé ist sich bewusst, dass sie manchmal eine Maske aufsetzt und so tut, als wäre alles in Ordnung. Sie widmet ihre ganze Energie der Arbeit, der sie am Vormittag nachgeht. Nachmittags erholt sie sich bei einer dreistündigen Siesta. «Ich schäme mich immer noch ein wenig dafür, dass ich alles langsamer mache», sagt sie. «Zum Beispiel fällt mir alles, was mit Computern zu tun hat, sehr schwer, und ich muss mir Strategien zurechtlegen.»

Wichtige Unterstützung

Chloé wurde bei einer beruflichen Weiterbildung auf die Regionalvereinigung FRAGILE Vaud aufmerksam. Als sie in einer Selbsthilfegruppe von einer Teilnehmerin erfuhr, die ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte, sprach Chloé mit ihr über ihre Erfahrungen. Sie hatte zwar schon von Selbsthilfegruppen für Betroffene gehört, fühlte sich aber nicht «berechtigt», daran teilzunehmen, da sie keine sichtbaren Folgen hatte. «Heute ist mir klar, dass ich falsch lag. Bei den Treffen hat es Menschen, die stärker betroffen sind als andere, aber es gibt keine Hierarchisierung der Folgen und des Leidens. Alle sind willkommen.» Diese Gesprächsgruppen sind eine enorme Unterstützung und bringen sie in Kontakt mit anderen Menschen mit einer Hirnverletzung. Auch ihr Mann nimmt hin und wieder an den Gesprächsgruppen für Angehörige teil.

Rückblickend sagt Chloé, ihr Schlaganfall habe sie gelehrt, Prioritäten in ihrem Leben zu setzen und «loszulassen». Wenn sie nicht arbeitet, widmet sie sich ihren Hobbys und hilft anderen Menschen, was sie vor ihrer Hirnverletzung wohl nicht hätte tun können. Sie ist resilient und sagt: «Ich bin dem Leben dankbar, dass es mich auf diesen Weg gebracht hat. Mit fast 50 Jahren bin ich im Reinen mit der Person, die ich geworden bin.»

Text: Megan Baiutti, Fotos: Valérie Baeriswyl

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