«Vom Leben ausgebremst – und dann auch noch kämpfen müssen»

Anonymer Erfahrungsbericht

Anonymer Erfahrungsbericht

Den heissen Sommertag in 2019 werde ich nie mehr vergessen. Ich war eine energiegeladene Frau im besten Alter, zwei schulpflichtige Kinder, in einer führenden Position angestellt, ich managte den Haushalt, den Garten – ich war den ganzen Tag unter Strom. 

Bis mich derart heftige Kopfschmerzen zum Handeln zwangen. Die Diagnose im Spital: Hirnblutung. Bereits das Spital hat mich bei der IV angemeldet. Vorsorglicherweise, wie man mir gesagt hat, denn noch war mir mein Zustand nicht im Geringsten bewusst, und es sollte auch noch sehr lange dauern, bis das bei mir ankam. 

Eine Nachbarin von mir erschrak, als ich ihr davon erzählt habe. «Jesses, dann brauchst du einen Anwalt!» Äh, wieso sollte ich einen Anwalt brauchen, wenn ich mit der IV zu tun habe? Die IV ist doch dazu da, mir zu helfen? Habe ich mich noch gefragt. Der Partner meiner Nachbarin war ein absoluter Experte in Sachen Sozialversicherungen und das Erste, das er zu mir gesagt hat: «Du brauchst einen Psychiater.» Äh, wieso einen Psychiater? Mein Handicap ist neurologisch, nicht psychisch… Weil ein Psychiater die Eintrittskarte bei der IV sei. Aha. Okay, ich habe mir dann eine Psychiaterin besorgt, hatte unglaubliches Glück mit ihr, sie ist wirklich Gold wert. 

Meine Odyssee mit der IV zog sich drei Jahre hin – so lange hat es gedauert, bis ich die Gutsprache erhielt. Mit zig Nachfragen und Einsprachen meines Anwaltes und auch meiner Pensionskasse. Ende gut, alles gut. Oder doch nicht? Bereits zwei Jahre nach der Gutsprache wurde die Revision eröffnet. Wieder mit Befragung meines Arbeitgebers, der ganz toll zu mir gehalten hat, mit Befragung meiner Hausärztin und meiner Psychiaterin. Anfragen an die IV meinerseits wurden gemäss meinem Anwalt falsch beantwortet. Auch haben sie von mir stets umgehend Antwort verlangt, ihrerseits jedoch haben sie sich sehr viel Zeit gelassen. Es hat mir auch wirklich Respekt eingeflösst, was die IV alles bereit ist zu tun, um mich von der Rentenliste streichen zu können. Das geht soweit, dass die IV offenbar meine Krankenkassenabrechnungen prüft, um zu sehen, ob ich beim Arzt war. War ich es nicht, sei ich ja gesund und bräuchte keine IV. Was im Anbetracht einer Hirnverletzung mit neurologischen Defiziten und gemäss ärztlicher Prognose ohne Hoffnung auf Verbesserung mehr als fragwürdig ist. 

Als vorher leidenschaftlich erwerbstätige Person, fühle ich mich so hingestellt, als würde ich versuchen, unser Sozialsystem auszunutzen. Dass ich nach dem Anerkennen meiner Handicaps in eine Depression fiel und ein stationärer Aufenthalt notwendig wurde, interessiert die IV nicht. Sie interessiert sich auch nicht für meine Diagnose. Rentnerin ist Rentnerin, und wir haben nur das Ziel, dich von unserer Rentenliste streichen zu können. Dies mein Gefühl.

Wieso es bei mir zu einem positiven Bescheid gekommen ist, weiss ich bis heute nicht. Vielleicht weil mein Arbeitgeber für mich Dokumente eingereicht hat, die mich sehr unterstützt haben? Vielleicht weil mein Anwalt bei der IV bereits bekannt war, und sie wussten, dass er fachlich sehr versiert, dossiersicher und hartnäckig ist? 

Vor dieser Geschichte habe ich geglaubt, die IV sei dazu da, Menschen mit gesundheitlichem Pech zu unterstützen und zu helfen – das lernt man ja auch so an jeder Schule und an jedem diesbezüglichen Kurs. Nie hätte ich geglaubt, wie es in Wirklichkeit abläuft. Und wenn ich meine Geschichte erzähle, ist auch mein Umfeld immer wieder aufs Neue überrascht und ungläubig. Aber tja – es ist wahr. Nach gesundheitlichem Pech, wenn’s einem eh schon nicht gut geht, soll man dann auch noch die Kraft aufbringen, gegen eine Institution wie die IV zu kämpfen. Fast unmöglich. Deshalb mein Tipp an alle, die mit der IV zu tun haben: Besorgt euch einen Anwalt, die Kosten dafür lohnen sich auf jeden Fall. 

Anonym

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