Was bedeutet Resilienz bei Menschen mit einer Hirnverletzung?
Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, sich nach einem schwierigen Ereignis im Leben wieder aufzurappeln und weiterzumachen. Dieses Ereignis kann eine Hirnverletzung oder eine Krankheit sein, aber auch das Nichtbestehen einer Prüfung oder das Scheitern einer Liebesbeziehung. Resilienz zeigt sich darin, dass man mit dem Erlebten umgehen lernt, ohne es aber zu vergessen. Für die Betroffenen bedeutet dies, dass sie es schaffen, weiterzumachen und ausgehend von ihrer neuen Situation wieder Pläne zu schmieden.
Menschen mit einer Hirnverletzung sind sich oft nicht bewusst, dass sie im Alltag Resilienz beweisen. Viele von ihnen sagen, sie würden nichts tun und hätten keine Ressourcen. Dabei zeigen gezielte Fragen, dass sie Verschiedenes geschafft haben: Die Wiederaufnahme einer körperlichen Aktivität, die Rückkehr nach Hause nach einem Spitalaufenthalt … Alles Dinge, die von den Betroffenen als banal betrachtet werden. Aber es geht gar nicht darum, etwas Aussergewöhnliches zu leisten: Was zählt, sind die kleinen alltäglichen Handlungen.
Wie stärkt man die eigene Resilienz?
Man kann sie stärken, indem man auf die eigene psychische Gesundheit achtet, sich mit einem guten Umfeld umgibt und versucht, optimistisch zu sein. Mit einer positiven Lebenseinstellung ist es einfacher, Resilienz zu beweisen. Deshalb fordere ich Betroffene dazu auf, abends darüber nachzudenken, was an ihrem Tag positiv war. Diese Übung hilft, sich darauf zu konzentrieren, was im Leben gut läuft.
Für Menschen mit einer Hirnverletzung ist es ganz wichtig zu erkennen, wozu sie noch fähig sind. Meist sehen sie nur die verlorenen Fähigkeiten, weil sich während des Spitalaufenthalts nach der Verletzung alles darauf konzentriert, was nicht mehr funktioniert. Aber wenn wir neue Orientierungspunkte setzen und Zukunftspläne schmieden wollen, müssen wir wissen, was noch funktioniert.
Haben Sie einen Rat für Betroffene?
Ich rate ihnen, sich nicht schuldig zu fühlen, wenn es ihnen nicht gelingt, sich spontan und ohne Hilfe wieder zu fangen. Ein Stimmungstief nach einer Hirnverletzung ist normal. Man sollte aber darauf achten, dass diese Phase nicht allzu lange andauert. Man kann selbst Resilienzfähigkeit entwickeln, aber manchmal ist die Situation ganz einfach zu komplex. Deshalb sollte man nicht zögern, eine Therapeutin oder einen Berater von FRAGILE Suisse um Hilfe zu bitten. Die Teilnahme an Gesprächsgruppen ist ebenfalls sehr hilfreich: Hier kann man sich mit Menschen austauschen, die in der gleichen Situation sind, und sehen, was sie umgesetzt und erreicht haben. Das macht Mut.
Ein weiterer Tipp ist, zu versuchen, sich den gesamten Werdegang seit der Hirnverletzung vor Augen zu führen. Sich die Zeit zu nehmen, über alles nachzudenken, was seit der Verletzung erreicht wurde. So kann man erkennen, welchen Weg man bereits zurückgelegt hat. Das motiviert zum Weitermachen.
Interview: Megan Baiutti