«Die Welt ist ein wandelndes Wunder – und das bin ich auch»

Nicht nur hört sie Geräusche, die sonst fast niemand hört, auch sieht sie die Welt die meiste Zeit in Doppelbildern. Durch ein Schädel-Hirn-Trauma sind alle Sinne von Damaris viel intensiver und stärker.

Nicht nur hört sie Geräusche, die sonst fast niemand hört, auch sieht sie die Welt die meiste Zeit in Doppelbildern. Durch ein Schädel-Hirn-Trauma sind alle Sinne von Damaris viel…

Künstlerisches Foto von Damaris B. Sie lächelt mit dem Blick nach links und mit der Fotokamera in der Hand.

Foto: Hanna Büker

«Das Tram, das soeben draussen vorbeifährt, lenkt mich grad ziemlich ab», sagt Damaris im Gespräch zu mir. Ich strenge mich an, kann jedoch kein vorbeifahrendes Tram hören. Damaris erklärt: «Durch meine Hirnverletzung bin ich viel sensibler auf Reize. Der Filter, der Reize in ‹Vordergrund; also relevant› und ‹Hintergrund; zurzeit nicht relevant› aufteilt, dieser Filter ist meinem Hirn abhanden gekommen.»

Die heute 33-Jährige erlitt vor drei Jahren durch einen Velounfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. An den Unfall, bei dem sie glücklicherweise einen Helm trug, der ihr wahrscheinlich das Leben rettete, erinnert sie sich nicht. Damaris erinnert sich auch nicht mehr an die Minuten oder Stunden vor dem Unfall. Die letzten Erinnerungen sind vom Vorabend, bevor ihre Welt aus den Fugen geriet. Mit der Rega wurde sie ins Spital geflogen, dort lag sie zuerst im künstlichen und später im Wachkoma. Die Diagnose: schweres Schädel-Hirn-Trauma und mehrere Hirnblutungen. Der Unfall ereignete sich Ende Juli, ihre ersten Erinnerungen hat sie erst einen Monat danach. Was dazwischen passierte, weiss sie nur aus Erzählungen.

«Die Folgen der Hirnverletzung sind ziemlich diffus», sagt Damaris. Wir sitzen in der Berner Altstadt in einem Haus, in dem auf insgesamt vier Etagen Kaffee getrunken, gearbeitet, geplant und erschaffen wird. Es ist ein Co-Working-Space, in dem es neben Büroplätzen auch Atelierplätze für Kreative gibt. Auch Damaris gehört dazu. Regelmässig ist sie hier, um ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen und sich mit anderen Künstler:innen auszutauschen.

Bewusster durchs Leben

Wieder hat sie diesen Blick, als ob sie etwas hörte. Ich horche genau hin, nichts. Doch als ich aus dem Fenster schaue, verstehe ich: wieder ist ein Tram vorbeigefahren. «Dass ich wahnsinnig gut höre, ist nur eine von vielen Folgen», erklärt die junge, aufgestellte Frau. Alle fünf Sinnesebenen seien betroffen und viel sensibler als vor dem Unfall. Für sie am meisten bemerkbar macht sich das beim Hören und Sehen. «Wobei die visuelle Einschränkung am einfachsten zu erklären ist», sagt sie und erläutert gleich weiter: «Die Bilder, die mein rechtes und linkes Auge sehen, können nicht mehr nahtlos zu einem einzigen Bild zusammengefügt werden. Deshalb sehe ich die meiste Zeit alles in Doppelbildern.» Nur wenn sie ganz gerade schaut, sieht sie die Welt nicht doppelt. «Ich muss halt jetzt quasi erhobenen Hauptes durchs Leben gehen und mein Leben ist irgendwie konstant ‹Hashtag#no-Filter›», sagt sie schmunzelnd.

Ihren Humor, ihren Optimismus und ihre Lebensfreude hat sie nicht verloren. Im Gegenteil: heute geht Damaris bewusster durchs Leben. «Durch meinen ‹neuen Blick› nehme ich die Schönheit im Alltag intensiver und bewusster wahr. Ich staune ab Sachen, die ich vorher nicht mal wahrgenommen habe. Es gibt viel Schreckliches auf der Welt. Aber auch ganz viel Schönes. Es ist ein Geschenk, das Schöne wahrnehmen zu dürfen.» Ihre Familie und Freunde sind für Damaris eine unglaublich wertvolle Ressource. Auch ihr Glaube gibt ihr Kraft. Neue Energie tankt sie gerne in der Natur, am liebsten bei ihrer Mutter, die in einem kleinen Bergdorf im Tessin lebt. Fast immer mit dabei: ihre Kamera. Sie war schon immer leidenschaftliche Fotografin, doch durch die Hirnverletzung hat sie das Fotografieren nochmals auf einer anderen, neuen Ebene entdeckt. «Mit einem neuen Blick», sagt sie mit einem Lächeln.

Neue Perspektiven

Zum Erstaunen des Behandlungsteams erholte sich Damaris trotz ihrer schweren Verletzungen verhältnismässig zügig und gut. So gut, dass sie sogar einen Arbeitsversuch an ihrem vorherigen Arbeitsort im Akutspital machen konnte. Knappe zwei Jahre und diverse Anpassungen später wurde jedoch klar, dass Damaris auch in einem reduzierten Pensum nicht mehr als Pflegefachfrau tätig sein kann. Die Erkenntnis, dass es – trotz viel Willenskraft und der Unterstützung eines wunderbaren Arbeitsteams – nicht ging, war ein harter Schlag für sie. «Tröstlich war für mich, dass das Gesundheitswesen ja auch für Menschen, die nicht auf den Kopf gefallen sind, ein ziemlich hartes Pflaster zum Arbeiten ist», sagt sie humorvoll.

Die Fotografie war und ist ihr eine grosse Stütze. «Ich mag es, Schönes und Gutes bildlich festzuhalten.» Bald nach dem Unfall begann Damaris ihre fortlaufende Bildserie «BLOCK», bei der sie Fotoaufnahmen mit Doppelbelichtung macht. «Damit die Betrachtenden sich vorstellen können, wie ich die Welt sehe.» Auch bei der Kunstausstellung «INVISIBILE» von FRAGILE Suisse im letzten Jahr war sie dabei. «Es hat Mut gebraucht, mich zu bewerben. Aber ich bin froh, dass ich es getan habe. Es war eine gute Erfahrung», sagt Damaris.

In der Reha nach dem Unfall wurde die Bernerin auf FRAGILE Suisse aufmerksam. «Ich habe gleich diverse Broschüren für mich und meine Angehörigen bestellt. Ich dachte, wir brauchen das.» Sie nimmt auch die Sozialberatung in Anspruch. «Fragile Suisse hilft mir, den Überblick nicht zu verlieren in der doch sehr komplexen Welt der Sozialversicherungen. Das ist unglaublich wertvoll.» Auch an verschiedenen Gruppenangeboten der Regionalvereinigung Bern Espace Mittelland nahm sie schon teil.

Umgang mit Reizüberflutung

Unser Gespräch dauert schon etwas mehr als 1,5 Stunden. Die Müdigkeit ist ihr anzusehen. «Da Reize ungefiltert auf mich ‹einprasseln›, habe ich oft mit Reizüberflutungen zu kämpfen», erklärt sie. Sie braucht regelmässig Pausen. Denn auch schon der Wind, der ihr durch die Haare bläst, ist ein Reiz. Ohropax und Noise-Cancelling-Kopfhörer helfen ihr, Geräusche möglichst fernzuhalten. «Ich brauche Ruhezeiten, aber eben auch das gemeinschaftliche und gesellschaftliche Leben. Die richtige Balance zu finden, ist nicht einfach. Es gelingt mir nicht immer… also eigentlich gelingt es mir für meinen Geschmack ein wenig zu oft nicht», sagt sie selbstkritisch. Und fährt fort: «Ich möchte aber lernen, grosszügiger zu sein mit mir selber und immer wieder aufs Neue versuchen, mit meinen veränderten Umständen Frieden zu schliessen.»

Dass sie selbstständig in einer WG leben kann, dafür ist Damaris sehr dankbar. Im Moment wohnt sie probehalber in einem Stadtkloster. «Ist irgendwie ja sehr naheliegend, dass ich ‹Ruhe und Stille› jetzt im Kloster suche», scherzt sie. Zurzeit macht sie ein Praktikum im Bereich interaktive Medien. Sie fotografiert und gestaltet, was ihr viel Freude bereitet. Das primäre Ziel ist die Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt. Ob das klappen wird, ist noch offen. Fest steht aber: Aus der Bahn werfen wird sie so schnell nichts mehr.

Machen Sie sich Ihr eigenes Bild und stöbern Sie durch die Arbeiten von Damaris unter: www.dmrsbrgr.com/blog

Text: Carole Bolliger, Fotos: Hanna Büker

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