«Ein Monat Arbeitsversuch ist bei einer Hirnverletzung nicht ausreichend»

Mit welchen Hürden haben Betroffene nach einer Hirnverletzung zu kämpfen, wenn sie ins Arbeitsleben zurückkehren? Und wie kann FRAGILE Suisse unterstützen?

Mit welchen Hürden haben Betroffene nach einer Hirnverletzung zu kämpfen, wenn sie ins Arbeitsleben zurückkehren? Und wie kann FRAGILE Suisse unterstützen?

Yvonne Keller

Yvonne Keller

Yvonne Keller, Sozialarbeiterin bei FRAGILE Suisse, gibt Auskunft.

Yvonne Keller, inwiefern unterstützt FRAGILE Suisse Betroffene nach einer Hirnverletzung bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz?
Wenn eine Person nach einer Hirnverletzung wieder ins Arbeitsleben zurückkehrt, sind öfters mehrere Stellen involviert: sehr häufig die IV, Versicherungen, die SUVA. Zuweilen auch Neuropsychologen und Ärzte, welche abklären und einschätzen, was für die Patient:innen möglich ist. Was können die Betroffenen noch und was nicht? Unsere Rolle von FRAGILE Suisse ist in dieser ersten Phase eher ergänzend. Wir unterstützen die Betroffenen und Angehörigen: was brauchen sie noch? Haben Versicherungen oder andere Beteiligte an alles gedacht? Weiss der alte oder neue Arbeitgeber Bescheid über die Hirnverletzung? Wir geben ihnen Tipps, worauf sie achten sollten, welche Fragen sie stellen können.

In der ersten Phase ist FRAGILE Suisse also eher im Hintergrund tätig. Ändert sich das später?
Wenn es nicht so gut läuft, wenn sich Betroffene nicht verstanden fühlen, vom Arbeitgeber, der IV, Versicherungen oder Ärzten, dann kommen wir von der Sozialberatung aktiv dazu. Das kann sein mit einem Telefonat, einem Schreiben oder auch, indem wir zusammen mit den Beteiligten an einen runden Tisch sitzen.

Welche Schwierigkeiten erleben Sie bei der Arbeitsintegration von Betroffenen nach einer Hirnverletzung und was sind die grössten Hürden?
Eine der grössten Hürden im ersten Arbeitsmarkt ist sicherlich die Bereitschaft des Arbeitgebers, seine Zeit und Energie und die des gesamten Teams zu investieren. Zu schauen, welche Möglichkeiten man hat, der betroffenen Person geeignete Aufgaben geben zu können. Es stellen sich viele Fragen: Ist die gleiche Arbeit noch möglich oder was finden wir für eine andere Lösung?

Im zweiten Arbeitsmarkt kann es einfacher sein, unterzukommen. Aber man muss sich bewusst sein, dass das weit weg ist vom ersten Arbeitsmarkt und man dort auch keine Sicherheit hat, dass man bleiben kann.

Wie meinen Sie das?
Wenn die beruflichen Massnahmen abgeschlossen sind, allerdings die Rente der IV noch nicht geprüft wurde, ist die Finanzierung der betroffenen Person im zweiten Arbeitsmarkt nicht gewährleistet. Erst, wenn die IV-Rente gesprochen wurde. Das ist eine sehr grosse Lücke in unserem System.

Was könnte denn in Ihren Augen die Lösung dafür sein?
Die IV oder die Kantone müssten dafür Überbrückungsgelder leisten, damit die Betroffenen sicher im zweiten Arbeitsmarkt bleiben können, bis das mit der IV-Rente geklärt ist.

Welche Massnahmen sind aus Ihrer Sicht besonders effektiv bei der Arbeitsintegration nach einer Hirnverletzung?
Ich finde es sinnvoll, wenn man als Betroffene:r einen Arbeitsversuch macht. So kann man schauen, wie es einem damit geht, was man noch kann und wo man Probleme hat. Egal, ob im ersten oder zweiten Arbeitsmarkt. Und dies genug lange. Ein Monat ist bei einer Hirnverletzung nicht ausreichend. Erst nach mindestens einem halben Jahr kann man langsam sagen, was noch geht und was nicht. Viele denken nur kurzfristig, aber es muss langfristig funktionieren, da sprechen wir gar von mehreren Jahren.

Auch empfiehlt es sich, regelmässige Gespräche mit allen Beteiligten zu führen, auch mit uns Berater:innen. Dabei sollte nicht zu weit im Voraus geplant werden.  Denn was vor einem Monat galt, kann bei einer Hirnverletzung heute schon wieder ganz anders sein.

Welche Rolle spielen die Angehörigen?
Sie können eine grosse und wichtige Rolle spielen. Denn sie kennen die Person, wie sie vor der Hirnverletzung war und wie sie heute ist. Sie erleben, wie sie von der Arbeit nach Hause kommen. Erschöpft, ausgelaugt? Angehörige sind ihnen nah, aber haben trotzdem eine gewisse Aussenansicht, sehen es vielleicht auch objektiver, als die Betroffenen selber. Längerfristig können sie helfen, Bilanz zu ziehen und ihre Beobachtungen miteinzubringen. Es kann aber auch negativ sein, wenn Angehörige vielleicht andere Erwartungen und Vorstellungen an die betroffene Person haben.

Welche Herausforderungen sehen Sie in Zukunft bei der Arbeitsintegration von Betroffenen nach einer Hirnverletzung?
Ein grosses Ziel muss sein,  dass mehr gute soziale Arbeitsplätze für Betroffene angeboten werden. Sowohl von Arbeitgebenden und Versicherungen als auch von der Politik. Leider ist zurzeit aber genau das Gegenteil der Fall. Immer mehr solcher Plätze werden abgeschafft, der Leistungsdruck steigt. Da muss sich die Politik etwas überlegen. Denn es wird ja nicht weniger Betroffene geben, sondern immer mehr.

Interview: Carole Bolliger

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