Mut fassen und einen neuen Schritt wagen

Andy U. ist 66 Jahre alt, ehemaliger Mitarbeiter bei FRAGILE Suisse und selbst von einer Hirnverletzung betroffen. Mit seiner Arbeit unterstützte er die Bildung mit der Planung, Durchführung und Auswertung der zahlreichen Kurse für Betroffene und Angehörige. Schon seit vielen Jahren besucht er den Kletterkurs in Greifensee und seine Begeisterung dafür ist spürbar. Doch auch das brauchte erstmal seinen Anfang.

Andy U. ist 66 Jahre alt, ehemaliger Mitarbeiter bei FRAGILE Suisse und selbst von einer Hirnverletzung betroffen. Mit seiner Arbeit unterstützte er die Bildung mit der Planung,…

Andy im Kletterkurs

 

Andy, du bist schon fast unser «inoffizielles Maskottchen» für die Kletterkurse. Auch heute nimmst du dir wieder Zeit, uns über deine Erfahrungen zu berichten. Wie lief das eigentlich ganz zu Beginn, bevor du zum regelmässigen Kletterkurs-Besucher wurdest?

Bevor ich bei FRAGILE arbeitete, hatte ich noch nie einen Kurs besucht und Kletterkurse gab es auch keine. Als aber die Idee dazu aufkam, sagte ich zu meiner damaligen Vorgesetzten: «Wenn du es schaffst, im Raum Zürich einen Kletterkurs zu organisieren, dann mache ich auch mit». Es dauerte dann noch etwa eineinhalb Jahre, bis wir den ersten Kletterkurs im Raum Zürich aufstellen konnten. Das ist der Kletterkurs in Greifensee und ich bin seit Anfang mit dabei. Ausfallen lasse ich keinen Termin – nur sehr widerwillig auf Verordnung des Arztes oder wegen sonstigen Notfällen.

Obwohl dich das Klettern jetzt richtig gepackt hat, hattest du vor deiner Hirnblutung noch keine Erfahrung damit. Solch ein Einstieg in eine unbekannte Aktivität ist bestimmt herausfordernd – Wie ging es dir dabei?

Es brauchte schon etwas Mut. Stell dir vor, du gehst zum ersten Mal Klettern. Du stehst vor dieser acht Meter hohen Wand und solltest da hinaufkommen. «Das geht nicht», denkst du dir, «das schaffe ich nicht».

Aber dann machst du einen Schritt vorwärts und die Kursleitung sagt: «Hebe jetzt deinen linken Arm hoch», dann: «Jetzt kannst du dich dort mit dem rechten Fuss abstützen». Es braucht Überwindung, das zu tun. Doch wenn du den ersten Fuss hebst, bist du plötzlich 20 cm weiter oben. Dann der nächste und es sind nochmals 20 cm. Und beim nächsten Griff ist es gleich nochmal so viel. So lernst du, Herausforderungen in kleinen Stücken anzugehen. Einfach dranbleiben und irgendwann ergibt sich aus diesen kleinen Stücken eine acht Meter hohe Kletterwand.

So war das auch für mich. Die ersten paar Male schaffte ich es nicht die ganze Wand hoch, dazu fehlte mir einfach die Kraft. Mittlerweile klettere ich fast jedes Mal ganz nach oben und es ist immer wie ein kleiner Sieg für mich. Das ist fantastisch.

Du nimmst nun schon seit sieben Jahren am Kletterkurs teil. Gehst du die Kletterwand heute anders an als früher?

Ja, ich denke mir nicht mehr, dass ich sofort pfeilgerade diese Wand hochkommen muss. Zuerst betrachte ich die Kletterwand und überlege mir, welches der beste Pfad nach oben ist. Das geht mal nach links und nach rechts und nicht immer gleich in die Höhe. Irgendwo muss ich vielleicht ausweichen oder mir etwas Anderes überlegen – aber ich bleibe nicht stecken.

Wie sieht ein typischer Kletterkurs grundsätzlich aus?

Zuerst machen wir alle gemeinsam einige Übungen, um uns aufzuwärmen – Gelenke beugen, Muskeln aktivieren und so weiter – damit wir bereit fürs Klettern sind und uns nicht verletzen. Anschliessend gehen wir meist in Dreiergruppen (zwei Betroffene, ein:e Kursleiter:in) zur einer Kletterwand nach Wahl, denn es gibt sie in allen möglichen Schwierigkeitsstufen. Die erste Person montiert die Klettergurte und versucht sich nun an der gewählten Kletterwand. Wir klettern so weit wir können und möchten. Wenn man nicht mehr kann, sagt man einfach: «Ich möchte wieder herunter» und die Kursleitung unterstützt beim Abseilen. Anschliessend ist die nächste Person an der Reihe.

Wird einem da nicht langweilig, wenn man auf die anderen warten und ihnen zuschauen muss?

Wer geklettert ist, kann sich in der Wartezeit gut ausruhen. Besonders wichtig ist aber: Wir motivieren uns gegenseitig. Mal ist es ein «Gut gemacht» oder ein «Bravo», mal ist es ein Vorschlag, wohin man als nächstes greifen könnte. Wir tauschen uns aus, sprechen über Stellen, an denen jemand vielleicht Schwierigkeiten hatte und bringen Lösungsvorschläge. Das gibt eine fantastische Gruppendynamik und einen starken Zusammenhalt. Oftmals treffen wir uns auch nach dem Kurs für ein gemeinsames Mittagessen.

Entstehen auch Freundschaften daraus?

Das kann man so sagen, ja. Wir motivieren uns aber nicht nur gegenseitig innerhalb der Kursgruppe, sondern wollen auch Aussenstehende dazu ermutigen, es auszuprobieren. Viele sagen dann, sie können nicht klettern. Doch man kann auch zu einem Schnuppertermin kommen und nur zuschauen – zum Klettern wird niemand gezwungen. Aber vielleicht probiert jemand dann doch das «Gstältli» an und wagt sich an die Kletterwand. Es gab aber auch schon Fälle, da kam jemand zwei bis drei Mal in den Kurs und meinte dann: «Für mich passt das eigentlich nicht». Das muss man akzeptieren und sich darüber freuen, dass es die Person überhaupt ausprobiert hat.

Muss man bestimmte Bedingungen erfüllen, um beim Kurs mitzumachen?

Der Kurs ist für Betroffene und man sollte ein paar Schritte gehen können – ansonsten braucht es keine Erfahrung oder Vorkenntnisse. Natürlich gibt es schon Grenzen oder Einschränkungen, mit denen Klettern einfach nicht funktioniert, aber grundsätzlich ist sehr viel möglich. Bei Unsicherheit soll man unbedingt bei FRAGILE direkt nachfragen und einen Schnuppertermin vereinbaren. Wir helfen uns gegenseitig beim Anziehen der Klettergurte und man klettert nur so viel, wie einem wohl ist.

Du hast selbst auch eine körperliche Einschränkung, die dir das Klettern erschwerte. Kannst du uns mehr darüber erzählen?

Nach der Hirnverletzung konnte ich meinen rechten Arm nur etwa bis zur Schulter heben, bevor er zu zittern begann. Schon nach dem ersten Mal Klettern merkte ich aber, dass er ein klein wenig weiter hoch ging und mit jedem Kursbesuch verstärkte sich das. Jetzt kann ich den Arm nicht nur ganz in die Höhe strecken, sondern auch Kraft aufwenden, um mich daran hochzuziehen.

Ich merke aber auch, dass die Kraft wieder nachlässt, wenn ich ausnahmsweise mal nicht in den Kurs gehen kann. Deshalb ist es wichtig dranzubleiben. Wenn jemand sagt: «Das bringt doch nichts», dann kann ich nur erwidern: «Komm mit und probiere es aus. Dann kannst du vergleichen, wie es am Anfang war. Du wirst sehen, dass jetzt mehr möglich ist als zuvor».

Hat dir der Kurs auch auf emotionaler Ebene geholfen? Fühlst du dich selbstsicherer?

Auf jeden Fall. Auch wenn vieles besser ist als vorher, muss ich weiterhin mit meinen Einschränkungen leben. Manchmal schlägt das richtig aufs Gemüt. Deswegen sind die Erfolge beim Klettern umso schöner. Sie zeigen mir: ich kann etwas. Morgen geht die andere Sache bestimmt auch wieder besser. Das gibt mir ein Glücksgefühl, das mir niemand wegnehmen kann.

Herzlichen Dank für deinen motivierenden Bericht, Andy! Zum Abschluss möchten wir uns direkt an die Leser:innen wenden. Gibt es etwas, das du ihnen sagen möchtest?

Wenn du dir überlegst, den Kletterkurs zu besuchen und dir unsicher bist: Vereinbare bei FRAGILE einen unverbindlichen Schnuppertermin. Einfach mal vorbeischauen ist das Wichtigste. Vielleicht nutzt du die Gelegenheit, für ein kleines Probe-Klettern, denn nur so findest du heraus, ob es dir Spass macht. Vielleicht entsteht für dich daraus ein Neuanfang?

 

Alle Kurse von FRAGILE Suisse und ihren Regionalvereinignungen finden Sie im Kursprogramm.

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