«Wir mussten weiterleben, um einander zu finden»

Markus Stadelmann wurde vor 23 Jahren von einem Lastwagen erfasst und erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Seine heutige Frau, Uschi Stadelmann, hatte im März 2018 eine Hirnhautentzündung. Vor fast sechs Jahren kreuzten sich ihre Wege, der Anfang einer wunderbaren Liebesgeschichte.

Markus Stadelmann wurde vor 23 Jahren von einem Lastwagen erfasst und erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Seine heutige Frau, Uschi Stadelmann, hatte im März 2018 eine…

Foto: Markus Stadelmann

Foto: Markus Stadelmann

Er hält ihre Hand liebevoll. Zusammen sitzen sie auf ihrem Sofa im gemütlichen Wohnzimmer. Sie strahlt ihn verliebt an. „Wir sind füreinander bestimmt“, sind sich die beiden sicher. Doch, bis sich ihre Wege kreuzten und sie die grosse Liebe ineinander fanden, musste jeder für sich einige Stolpersteine im Leben meistern.
Markus Stadelmann war ein junger, kräftiger Mann. Er arbeitete als Betriebsmaurer auf einem Autobahnwerkhof. Im August 1998 kam er seinem Job nach und sicherte einen Unfall auf der Autobahn. Ein Lastwagenfahrer bemerkte ihn nicht oder zu spät und erfasste ihn. Markus Stadelmann wurde weggeschleudert und überlebte den Unfall wie durch ein Wunder. Der Notarzt rettete ihm durch einen Luftröhrenschnitt das Leben. Die inneren Organe wurden gequetscht, sodass ein Teil der Lunge und die Milz entfernt werden mussten. Und er trug ein schweres Schädel-Hirn-Trauma davon. Markus Stadelmann lag zwei Monate im Koma. „In dieser Zeit hatte ich ein Nahtoderlebnis“, erzählt er und drückt die Hand seiner Frau noch etwas fester. Er habe ein helles Licht gesehen, aber eine Stimme sagte ihm, er solle bleiben, es gebe einen Grund zum Weiterleben. "Heute weiss ich, dass ich weiterlebte, damit ich später Uschi kennen lernen konnte“, ist er überzeugt.

Nicht nur die Erinnerung an den Unfall fehlt ihm, auch viele Erinnerungen aus seinem früheren Leben sind bis heute ausgelöscht. Vieles musste Markus Stadelmann nach seinem Unfall in einer neunmonatigen Reha wieder lernen: laufen, schreiben, reden. Er war damals verheiratet, doch seine zweite Frau kam mit dem Schicksalsschlag nicht zurecht, sie fing an zu trinken und machte ihm grosse Vorwürfe. „Ich hatte viele Schuldgefühle meiner Frau gegenüber, weil auch ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt wurde“, erinnert sich Markus Stadelmann. Eine schlimme und schwierige Zeit. Er zog sich immer mehr zurück, verlor fast alle Freunde. Er suchte die Schuld bei sich, setzte sich aber nicht mit seiner Hirnverletzung und deren Folgen auseinander. „Ich konnte das alles nicht einordnen, bis ich zu FRAGILE Suisse kam“, erinnert er sich. Er besuchte Gruppentreffen für Betroffene, was ihm half. „Zum ersten Mal habe ich Verständnis erfahren, ich merkte, dass es auch noch andere wie mich gibt.“

Er begegnete seiner grossen Liebe, ohne es zu merken

Nach ein paar Monaten konnte der heute 64-Jährige zu seinem alten Arbeitgeber zurück. Aber nicht mehr in seinen alten Job. Im Rahmen einer geschützten Arbeit konnte er noch kleine Arbeiten erledigen. Alles hatte sich verändert, seine Frau und er trennten sich. Markus Stadelmann kämpfte sich irgendwie zurück ins Leben, doch viele Folgen der Hirnverletzung machten es ihm nicht einfach: sein Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht mehr richtig, er ist schnell müde und wenn er unter vielen Menschen ist, fühlt er sich unwohl. Mittlerweile arbeitete er zwei Morgen in der Woche für eine Altersresidenz. 2012 hat er sich dem regionalen Besuchsdienst angeschlossen und besuchte zusammen mit seinem Begleithund Maiko ältere Menschen. Und dort begegnete er vor sechs Jahren auch seiner künftigen dritten Ehefrau und grossen Liebe Uschi – ohne es zuerst zu merken.

Die heute 61-Jährige war damals noch mit ihrem ersten Mann verheiratet. 40 Jahre lang. Er hatte über acht Jahre Leukämie, Uschi Stadelmann kümmerte sich um ihn, so gut es ging. Doch auch sie war angeschlagen: seit jungen Jahren litt sie an starkem Rheuma und nach einer missglückten Doppelkataraktoperation war ihr Sehvermögen seit 2012 sehr stark beeinträchtigt.  „Ich merkte, dass ich mich nicht mehr alleine um meinen Mann kümmern konnte“, erzählt sie. Da dieser aber nicht ins Spital oder in ein Pflegeheim wollte, platzierte sie ihn in einer Altersresidenz, bis sie einen geeigneteren Platz finden würde. Doch dazu kam es nicht mehr, ihr erster Mann erlag im April 2015 seiner Krankheit. Ein paar Monate danach war sie in besagter Altersresidenz und besuchte eine Pflegerin, die mittlerweile zu einer Kollegin geworden war. Und da passierte es: sie sah Markus Stadelmann und verliebte sich sofort. „Seine langen Haare und seine lieben Augen gefielen mir“, schwärmt sie. Doch er nahm sie an diesem Tag nicht wahr und sie traute sich nicht, ihn anzusprechen. Aber es liess sie nicht los und so versuchte sie herauszufinden, wer der Unbekannte war. Sie fand heraus, dass er für einen Besuchsdienst arbeitete und liess dort eine Nachricht ausrichten. „Ich bekam die Nachricht und dachte, da möchte jemand meinen Besuchsdienst in Anspruch nehmen“, erinnert sich Markus Stadelmann und lacht. Ein paar Tage später trafen sie sich das erste Mal. „Ich war hin und weg, mein erster Eindruck bestätigte sich“, erzählt Uschi Stadelmann mit glänzenden Augen. Sie hatte sich restlos in ihn verliebt. Und auch er fühlte sich hingezogen zu ihr, konnte aber seine Gefühle nicht einordnen. „Sie hat mich umgehauen mit ihrer direkten Art. Seit meinem Unfall habe ich zum allerersten Mal wieder Anerkennung erfahren“, sagt er. Er sagte ihr, er brauche etwas Zeit und würde sich melden. „Ich war mir sicher, dass ich ihn überfordert hatte und nie wieder etwas von ihm hören würde“, sagt sie lachend. Doch schon am nächsten Tag stand Markus Stadelmann wieder vor ihrer Tür und so nahm diese spezielle Liebesgeschichte ihren Lauf.

Hilfe und Freunde bei FRAGILE Suisse gefunden

Bald zogen sie zusammen. Uschi Stadelmann hatte mittlerweile ihr Augenlicht wieder, ihr Glück war perfekt. Doch der nächste Schicksalsschlag wartete schon: im März 2018 brach Uschi Stadelmann plötzlich zusammen, hatte Schüttelfrost, konnte nicht mehr reden, nicht mehr denken, hatte absolut keine Kraft mehr. Die Diagnose am nächsten Tag im Spital: Hirnhautentzündung. Zehn Tage schwebte sie in Lebensgefahr. Wie sie sagt, sterben 40 Prozent, die in der gleichen Situation sind, wie sie war. „Doch ich wusste, dass ich nicht sterben konnte, es gab da jemand, für den es sich zu leben lohnte“, sagt sie und lächelt ihren Mann an. Seit ihrer Hirnverletzung hört sie auf ihrem linken Ohr nichts mehr, sie ist sehr schnell müde, kann sich nur noch kurze Zeit am Stück konzentrieren und hat häufig Schwindel, weshalb sie auf eine Gehhilfe wie Krücken, einen Rollator oder ihren Mann angewiesen ist. Trotz ihrer Hirnverletzungen und den Folgen, mit denen beide tagtäglich zu kämpfen haben, sind Uschi und Markus Stadelmann dankbar und sehr glücklich, dass sie sich gefunden haben. Sie hadern nicht mit ihrem Schicksal. In den Selbsthilfegruppen von FRAGILE Aargau, die sie gemeinsam regelmässig besuchen, erfahren sie nicht nur Verständnis, sondern sie haben auch neue, tiefe Freundschaften mit anderen Betroffenen geschlossen. Auch sind sie Stammkunden im Wohlfühlwochenende für Paare von FRAGILE Suisse, sie nehmen an Mal- und Gedächtniskursen oder der Spielwoche teil und Markus Stadelmann bekommt alle drei Wochen Hilfe bei administrativen Arbeiten von einer Wohnbegleiterin. „FRAGILE Suisse ist einfach toll, es hilft uns extrem“, sind sich beide einig. Sie sind glücklich und zufrieden mit ihrem Leben.  „Gekrönt haben wir das im vergangenen Juni mit unserer Hochzeit“, sagt Uschi Stadelmann und wieder tätschelt ihr Mann ihr liebevoll die Hand.

Text: Carole Bolliger

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