Einsamkeit bei Menschen mit Hirnverletzung

Medienmitteilung von FRAGILE Suisse

Medienmitteilung von FRAGILE Suisse

Zürich, 21. September 2018 / Gemäss dem Bundesamt für Statistik fühlt sich in der Schweiz 36 Prozent der Bevölkerung einsam. FRAGILE Suisse, die schweizerische Vereinigung für Menschen mit Hirnverletzung, macht in diesem Monat verstärkt auf das Thema Einsamkeit bei Betroffenen aufmerksam. Wir haben uns zum Gespräch mit einer Neuropsychologin sowie zwei Menschen mit Hirnverletzung getroffen.


FRAGILE Suisse: Martina Hoffmann, was genau bedeutet Einsamkeit? Ist es gar eine Krankheit?

Martina Hoffmann: Man muss klar unterscheiden zwischen «alleine sein» (oder «sozial isoliert sein») und «sich einsam fühlen». Der Begriff der Einsamkeit beschreibt das Gefühl des «sich-alleine-Fühlens». Sich einsam fühlen heisst nicht zwingend, dass man auch alleine ist. Man kann in einer Familie, in einem Verbund sein und sich trotzdem einsam fühlen. Einsamkeit ist keine Krankheit. Aber wenn jemand längere Zeit darunter leidet, kann sie Stressreaktionen auslösen und Krankheiten wie Depression, Suchtverhalten und anderes begünstigen. «Alleine sein» muss dagegen nicht zwingend als negativ empfunden werden. Gerade Menschen mit Hirnverletzung empfinden das «Alleine sein» zuweilen auch als erholsam.

Weshalb ist Einsamkeit bei Menschen mit Hirnverletzung so ein zentrales Thema?

Einsamkeit tritt oft auf, wenn eine Änderung im Leben stattfindet. Und eine Hirnverletzung ist eine gravierende Veränderung, weil sie oftmals Auswirkungen auf das Zusammenleben in der Familie und im Freundeskreis, auf die Berufstätigkeit, die Freizeitgestaltung oder auch die finanziellen Möglichkeiten hat.
Viele Betroffenen können aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen oder der verminderten Belastbarkeit nicht mehr im selben Ausmass wie vor ihrem Ereignis oder ihrer Erkrankung an sozialen Aktivitäten teilnehmen. Damit haben sie auch weniger Möglichkeiten, sich sozial zu vernetzen, was soziale Isolation und damit auch Einsamkeitsgefühle begünstigen kann.
Zudem ist es für Aussenstehende vielfach schwierig, das Ausmass der unsichtbaren Verletzungen zu erkennen und zu verstehen. Dies kann bei Betroffenen dazu führen, dass sie sich «alleine in ihrer Welt» und unverstanden fühlen, was Einsamkeitsgefühle begünstigen kann.


Zwei Frauen mit Hirnverletzung im Gespräch

Christine O. erlitt vor sieben Jahren einen Schlaganfall. Bei Heidi F. sind seit ihrem Arterienriss bereits 15 Jahre vergangen. Sie sprechen über ihre Erfahrungen mit Einsamkeit.

«Was ist für Sie Einsamkeit?»

Christine: «Für mich ist Einsamkeit, wenn man sich von den anderen nicht verstanden fühlt. Einsamkeit ist nicht, wenn man niemanden um sich hat, sondern das Gefühl, trotz den Bemühungen der anderen von ihnen nicht verstanden zu werden.»

Heidi: «Wenn ich nicht spüre und verstehe, was der andere Mensch meint, dann beginnt die Einsamkeit. Einsamkeit ist das fehlende Zugehörigkeitsgefühl.»

«Wann fühlen Sie sich einsam?»

Christine: «Es hat immer einen Zusammenhang mit diesem Gefühl des Nicht-Verstanden-Werdens. Um ein Beispiel zu geben: Vor ein paar Tagen wollte ich putzen. Wegen meinem gelähmten Arm schaffte ich es aber nicht. Niemand verstand, weshalb ich mich nervte, und ich musste weinen.
Die anderen fragen sich jeweils, weshalb ich darauf beharre, etwas zu machen, das ich nicht machen kann. Aber ich muss es einfach trotzdem versuchen und ich will es wenigstens ein bisschen schaffen. Das führt zu grossen Problemen. In diesen Momenten fühle ich mich allein, denn wenn ich etwas nicht schaffe, habe ich das Gefühl, dass niemand versteht, weshalb ich mich so daran festbeisse. Ich muss an mir arbeiten und lernen, etwas auch mal ruhen zu lassen.»

Heidi: «Ich fühle mich einsam, wenn viele Leute um mich herum sind oder wenn ich etwas nicht verstehe. Dann muss ich nachfragen, was ich denn machen muss. Ich fühle mich dann wie ein Kind. Ich erreiche die anderen nicht mehr so, wie ich es vor der Hirnverletzung konnte. Nach der Hirnverletzung habe ich meine Mutter, meinen Mann und meine Söhne nicht mehr erkannt. Sie waren für mich alle fremde Menschen.»

«Wie gehen Sie mit Einsamkeit um?»

Christine: «Nachdem ich mich so sehr genervt habe, dass ich geweint oder mich mit den anderen gestritten haben, gebe ich irgendwann auf, weil es mich zu sehr belastet. Ich sage mir dann: «Es ist genug für heute, ich versuche es ein anderes Mal.»

Heidi: «Ich ziehe mich sofort aus dem Geschehnis zurück und suche Ruhe. Wenn das Gefühl ganz stark ist, gehe ich schon gar nicht erst raus, weil es mich sonst andauernd frustriert.»


Gegen Einsamkeit

Auch der Betroffene Jean-Daniel Zangger kennt das Gefühl der Einsamkeit. Dem Magazin von FRAGILE Suisse erzählt er, wie er damit umgeht. Etwas, was ihm hilft, sind die Kurse von FRAGILE Suisse, wie etwa der Juuz-Kurs, den er im Sommer besucht hat. Bei diesem Kurs wurde er von einem Filmteam des SRF für die Sendung «mitenand» begleitet. Der Beitrag wird am Sonntag, 23. September 2018, um 19.20 Uhr auf SRF 1 ausgestrahlt.

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