Der Mutmacher

Es ging steil bergauf mit seiner Karriere als Eishockeyprofi. Er wurde zu einem Sommercamp in die beste Liga der Welt eingeladen. Doch ein Schädel-Hirn-Trauma durchkreuzte seine Pläne. Heute will Kevin Lötscher mit seiner Geschichte anderen Mut machen.

Es ging steil bergauf mit seiner Karriere als Eishockeyprofi. Er wurde zu einem Sommercamp in die beste Liga der Welt eingeladen. Doch ein Schädel-Hirn-Trauma durchkreuzte seine…

Bild von Kevin Lötscher mit seinem Buch "Eiszeit"

Text: Carole Bolliger, Fotos: Markus Hässig

«Durch den Aufprall bin ich 30 Meter durch die Luft geflogen.» Kevin Lötscher sitzt an seinem Esstisch in seinem charmanten Zuhause, mit Blick auf das malerische Städtchen Murten. Wenn der 36-Jährige anfängt, seine Geschichte zu erzählen, klebt die Schreiberin förmlich an seinen Lippen. Und abwechslungsweise huscht ihr ein Lächeln übers Gesicht oder es laufen ihr kalte Schauer über den Rücken.

Es ist der 14. Mai 2011. Ein normaler Tag für viele. Ein verhängnisvoller für Kevin Lötscher. Der Eishockeyprofi hat nach der WM-Teilnahme mit der Schweizer Nati ein paar Tage frei, die er in seiner Heimat bei seiner Familie im Wallis verbringt. Er ist zu Fuss unterwegs, als er von einer jungen betrunkenen Autofahrerin auf dem Trottoir erfasst und weggeschleudert wird. «Mit 85 Stundenkilometern hat sie mich aufgeladen.» Kalte Schauer.

An den Unfall erinnert er sich nicht. Und auch die letzten beiden Wochen vor dem Unfall sind aus seinem Gedächtnis gelöscht. Bis heute. Die Diagnose: Schweres Schädel-Hirn-Trauma. 12 Tage liegt er im künstlichen Koma. «Nur, weil ich körperlich so parat war, habe ich den Unfall überhaupt überlebt», erzählt er. Er wirkt gefasst. Man merkt, dass er das schon öfters erzählt hat. Den Medien. Aber auch anderen. Mit seiner Geschichte geht er offen um. «Ich will anderen Mut machen.» Dies tut er, in dem er an den verschiedensten Anlässen als Referent auftritt. Und mit seinem erst kürzlich erschienenen Buch. «EISZEIT. Der Spielmacher bist du.» Das ist der Name und wohl kein anderer Titel könnte Kevin Lötschers Leben besser beschreiben.

Nicht mehr gut genug

Der zweifache Vater erzählt weiter: «Meine Festplatte war einmal gelöscht, koordinativ war ich ein Desaster, ich musste alles wieder lernen, wie ein Kind. Ich konnte nicht mehr laufen, nicht mehr selbständig essen, ich wusste nicht mehr, wie man sich die Zähne putzt oder was man mit einem Teebeutel anstellt.» Und obwohl das eigentlich tragisch ist, ist dies ein Schmunzelmoment. Der 36-Jährige erzählt seine Geschichte: ehrlich, direkt, authentisch, mit dem Schalk eines kleinen Jungen im Gesicht. «Hauptsächlich war ich einfach froh, am Leben zu sein. Und als mir die Ärzte nach relativ kurzer Zeit sagten, dass es möglich sein sollte, wieder aufs Eis zurückzukehren, war mein Ziel klar.» Er will zurück in den Spitzensport. Und tut alles dafür. Nichts kann ihn aufhalten. Aufgeben ist keine Option. «Natürlich gab es immer wieder schwierige Momente, aber ich wollte in mein altes Leben zurück. Und ich sagte mir auch, dass es schlimmer hätte sein können.» Immer an seiner Seite: seine Familie. Bedingungslos.

Nicht einmal drei Monate nach seinem... Unfall, steht der damals 23-Jährige zum ersten Mal wieder auf dem Eis. In Leukerbad – dort wo er als ganz kleiner Junge sein Feuer fürs Eishockey entdeckte. Ein emotionaler Moment. «Es war einfach nur schön. Und andererseits wurde mir klar, dass das ein langer Weg werden würde.» Und das wird es. Er kehrt zwar zurück in die höchste Schweizer Liga, doch obwohl er körperlich fitter ist denn je, kann er nicht mehr an seine vorherigen Leistungen auf dem Eis anknüpfen. Der Kopf ist langsamer als vorher, die Reaktionsfähigkeit schwächer. Seine Persönlichkeit verändert sich. «In meinem Frust habe ich Menschen verletzt, die mir wichtig waren», erzählt er. Nachdenklich schaut er aus dem Fenster. Seine Augen wirken traurig. Er habe falsche Entscheidungen getroffen. «Und ich mochte mich selbst nicht mehr». Das war der Punkt, an dem er wusste: «Jetzt ist Schluss».

2014 gibt er seinen Rücktritt bekannt. Ein sehr schwerer, aber unumgänglicher Entscheid. «Eine Erlösung.» Im ersten Moment. Doch dann folgt der Zusammenbruch, der tiefe Fall. Kevin Lötscher fällt in eine schwere Depression, hat einen Nervenzusammenbruch. «Ich war in einem grossen, schwarzen Loch, hatte kein Ziel mehr und fühlte mich einsam. Auf einmal gab es keine Struktur mehr in meinem Leben.» Eine lange und sehr harte Zeit. Professionelle Therapien helfen ihm, sich wieder zu finden und sich selbst neu kennenzulernen. Und seine Familie und Freunde. «Sie waren das Allerwichtigste. Ohne sie wäre ich heute vielleicht nicht mehr hier.» Nach und nach sieht er wieder etwas mehr Licht am Ende des Tunnels. «Ich wollte wieder Lebensfreude haben und zufrieden sein.»

Es ist ok, wenn man mal nicht ok ist

Heute, 13 Jahre nach dem verheerenden Unfall ist er sehr zufrieden. «Ich versuche, im Hier und Jetzt zu leben und aus jedem Augenblick das Beste zu machen.» Kevin Lötscher lacht viel und hat öfters Flausen im Kopf. «Genauso, wie ich auch früher war», sagt er. Sein Gesicht strahlt. Nach seiner Hockeykarriere versucht er sich als Gärtner, Verkäufer und Ernährungsberater. Seine grosse Leidenschaft entdeckt er aber mit der Gründung seiner eigenen Firma «SORGHA». Darin versteckt sich die wichtige Botschaft: Sich selbst Sorge zu tragen. «Ich will meine Geschichte mit anderen Menschen teilen und ihnen sagen: es ist ok, wenn man mal nicht ok ist.» Der sympathische Walliser will anderen Mut machen und zeigen «dass es weitergeht und dass es gut gehen kann.» Auch heute noch kämpft er mit Folgen des Schädel-Hirn-Traumas. Er ist schneller müde, braucht Pausen. Tagesausflüge mit seinen beiden Jungs zum Beispiel sind sehr anstrengend für ihn. Abends sei er «total auf dem Nuggi.»

Andere ermutigen, will er auch mit seinem Buch «EISZEIT». «Ich hatte schon öfters den Gedanken, meine Geschichte auf Papier zu bringen, aber nicht den Mut.» Dies ändert sich, als die Journalistin und Buchautorin Nadine Gerber auf ihn zukommt. «Im Januar vor einem Jahr hatten wir unser erstes Gespräch, im Februar entschied ich mich dafür und im Juni haben wir das Manuskript abgegeben», erzählt er. Wenn Kevin Lötscher etwas macht, dann richtig. Es sei nicht immer einfach gewesen, alle Phasen und Momente nochmals zu durchleben, indem er darüber sprach. «Aber es half mir auch, erneut zu verarbeiten und loszulassen. Die Zeit war sehr intensiv, aber auch sehr heilsam.» Um andere zu ermutigen und ihnen zu helfen, hat er sich entschieden, seine Biographie zu schreiben. Und sie ist ein Riesenerfolg. Mit «EISZEIT» stürmt er die Bestsellerlisten und im Januar wird er von Glanz & Gloria mit dem «G&G Mutmacher des Jahres»-Award ausgezeichnet. Kein Wunder, dieser aufgestellte, kämpferische junge Mann mit den Flausen im Kopf – er, der anderen Mut macht. Keiner hätte es wohl mehr verdient.

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