«Die Corona-Krise ist auch eine Chance»

Auch für das Begleitete Wohnen von FRAGILE Suisse ist während der Corona-Krise vieles anders.

Auch für das Begleitete Wohnen von FRAGILE Suisse ist während der Corona-Krise vieles anders.

Julia Eugster

Julia Eugster

Um die Schutzmassnahmen des Bundes einzuhalten, finden momentan möglichst keine Hausbesuche statt. Wenn aber nötig, besuchen die Wohnbegleiterinnen die Klienten zu hause. Julia Eugster, Leiterin Begleitetes Wohnen kommt soeben von einem solchen Termin zurück (Das Interview wurde im April während der Corona-Krise per Video geführt - inzwischen hat sich die Situation etwas verändert).

Julia, hast du den Tag heute anders erlebt als bei einem Besuch vor der Corona-Krise?
Nach Möglichkeit finden Termine mit der Wohnbegleiterin per Telefon oder per Videokonferenz statt. Wir besuchen die Betroffenen nur, wenn es nicht anders geht. Das war bei diesem Herrn der Fall, da er Hilfestellungen, die wir ihm telefonisch geben, nicht weiterverarbeiten kann.

Was war anders?
Wegen des Virus habe ich darauf geachtet, den Besuch möglichst kurz zu halten. Und wenn möglich, auch immer mit zwei Meter Distanz. Da dies nicht immer möglich war, tragen wir bei Hausbesuchen einen Mundschutz.

Wie reagieren die Klienten auf die veränderte Situation?
Das ist unterschiedlich. Es gibt Klienten, die nicht wollen, dass wir vorbeikommen. Sie gehören zur Risikogruppe und wollen sich schützen. Es gibt aber auch Personen, die darauf angewiesen sind, dass wir vorbeikommen. Sie sind verzweifelt, weil das ganze soziale Netzwerk, die Tagesstruktur und ihre Arbeit zusammengefallen sind. Fast alle Kontakte fallen weg und wenn auch noch die Wohnbegleitung abgesagt wird, macht dies die Personen noch unsicherer. Viele Klienten erzählen mir aber auch, dass sie die Ruhe schön finden. Vorher sei es schwierig gewesen, die Balance zwischen den vielen Terminen wie Arbeit, Therapien, Freizeit und Ruhezeiten zu finden.

Besuche macht ihr zurzeit nur, wenn unbedingt nötig. Wie könnt ihr die Klienten nun unterstützen?
Unsicherheit und Angst sind zurzeit ein grosses Thema bei vielen Klienten. Wir Wohnbegleiterinnen von FRAGILE Suisse unterstützen bei diesen Unsicherheiten, indem wir die Klienten anrufen oder mit ihnen über Video kommunizieren oder wenn eben nicht anders möglich, vorbeigehen. Wir bieten anstatt der regelmässigen Besuche momentan häufigere, kurze Telefonkonferenzen an. Und wir bleiben per Kurznachricht oder Mail im Kontakt. So wollen wir der Unsicherheit etwas entgegenwirken.

Was ist während der Corona-Krise die besondere Herausforderung beim Begleiten Wohnen?
Betroffene haben manchmal Hemmungen zu sagen, was sie brauchen oder überschätzen sich. Durch die Distanz zu den Klientinnen und Klienten ist es für uns Wohnbegleiterinnen schwierig einzuschätzen, welche Unterstützung die Klienten brauchen.

Ist die Corona-Krise auch eine Chance?
Ich sehe die aktuelle Lage ganz klar nicht nur als Krise, sondern auch als Chance. Die Krise zwingt die Betroffenen auch ein Stück weit zu mehr Selbständigkeit. Beispielsweise Menschen, die sich vorher nicht getraut haben, zu telefonieren, bleibt zurzeit nichts Anderes übrig. Sie telefonieren heute, während sie früher zu viel Angst davor hatten. Das ist doch eine schöne Chance.

Möchtest du noch etwas zum Begleiteten Wohnen sagen? Völlig unabhängig von Corona?
Ja! Das Begleitete Wohnen wird noch nicht in allen Kantonen finanziert. Die Klienten müssen die Wohnbegleitungen selbst bezahlen. Teilweise gibt es Dritte, die es zu einem Teil finanzieren. Aber grundsätzlich ist es noch nicht so, wie wenn man in einem Heim lebt. Dies wird vom Kanton übernommen. Es gibt wenige Kantone, die mittlerweile die ambulante Wohnbegleitung bezahlen. Es ist mir ein grosses Anliegen, dass die Klienten es vermehrt nicht mehr selbst bezahlen müssen. Das Begleitete Wohnen von FRAGIE Suisse ist zwar nicht per sé «teuer», aber es geht für die Klientinnen und Klienten doch um viel Geld. Dabei fördert das Begleitete Wohnen das selbstbestimmte Leben von Menschen mit Hirnverletzung.

Interview: Juliana Campos

Mehr zum Begleiteten Wohnen

Werden Sie aktiv