Die Folgen von Long-Covid und Hirnverletzungen

Im Interview mit uns erzählt PD Dr. med. Margret Hund-Georgiadis inwiefern sich die Folgen von Long-Covid und Hirnverletzungen ähnlich sind und womit Betroffene zu kämpfen haben.

Im Interview mit uns erzählt PD Dr. med. Margret Hund-Georgiadis inwiefern sich die Folgen von Long-Covid und Hirnverletzungen ähnlich sind und womit Betroffene zu kämpfen haben.

PD Dr. med. Margret Hund-Georgiadis

Interview mit PD Dr. med. Margret Hund-Georgiadis, Chefärztin und medizinische Leiterin FMH Neurologie im REHAB Basel – Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie

 

Am REHAB Basel bieten Sie seit einiger Zeit Sprechstunden für Long-Covid-Patienten an. Was sind Ihre bisherigen Erfahrungen? Können bereits erste «Muster» erkannt werden?

Seit März 2021 bieten wir Spezialsprechstunden für Long-Covid-Patienten an. Dabei versuchen wir immer zuerst diagnostisch zu klären, ob es fassbare organische Ursachen der Symptome gibt, die eine Therapie brauchen. Ist organisch alles soweit in Ordnung, kann der Patient ein individuell angepasstes Therapie-Programm beginnen.

Diese ambulante Sprechstunde richtet sich in erster Linie an Menschen mit leichten bis mittelschweren Corona-Infektionen, die sich nicht vollständig erholen konnten. Aktuell haben wir etwas über 110 Patienten. Tendenziell handelt es sich eher um jüngere Personen (ca. 25-50-Jährige) und mehr Frauen. Oft kommen die Patienten zu uns, da sie bereits seit mehreren Monaten krank sind und es nicht besser wird. Sie fühlen sich unwohl und haben sich nie vollständig von der Akutphase erholt.

Zu welchen (neurologischen) Beeinträchtigungen kann eine Covid-Erkrankung führen? Um was für Fälle handelt es sich?

Aufgrund ihrer Symptome teilen wir unsere Patienten in drei Gruppen ein. Diese setzen sich wie folgt zusammen: 

  • Gruppe 1: Husten, Atemnot, Luftnot bei Belastung, Herzrasen, insgesamt geringe körperliche Belastbarkeit
  • Gruppe 2: Fatigue (Müdigkeit)

Fatigue kann sowohl nach körperlicher Anstrengung auftreten als auch nach geringer geistiger Anstrengung und Konzentrationsarbeit. Viele Patienten berichten uns, dass sie beispielsweise kaum 500 Meter gehen können ohne sofort zu ermüden. Oder, dass sie bereits nach ca. 15 Minuten am Computer eine erste Pause einlegen müssen.

  • Gruppe 3: Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprobleme, oft auch in Kombination mit Fatigue

Weiter gibt es viele Randsymptome, die oft zusätzlich auftreten. Dazu zählen unter anderem Muskel- und Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen, anhaltende Geruchs- und Geschmacksprobleme sowie Depressionen.

Welche Zusammenhänge mit Folgen von Hirnverletzungen können Sie beobachten? Wo gibt es Parallelen?

Klagen Patient noch einige Monate nach der ersten Corona-Diagnostik über anhaltende Symptome wie beispielsweise Geschmacks- und Geruchsstörung, folgt eine bildgebende und weiterführende neurologische Diagnostik. Am häufigsten werden wir hier bei der Nervenleitung fündig, was auf eine leichte Beteiligung des Nervensystems schliessen lässt. Eher selten ist, dass man ganz leichte entzündliche Veränderungen findet. Die meisten Betroffenen haben jedoch komplett unauffällige Laborbefunde und zeigen keine relevanten Veränderungen in den Standarduntersuchungen.

Am häufigsten können Symptome wie Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörung sowie Müdigkeit beobachtet werden. Die Ausprägung ist aber von Fall zu Fall verschieden. Die Symptome erscheinen ähnlich, wie wir sie auch nach leichten Hirnverletzungen feststellen. Sie führen zu Leistungseinbrüchen und können den Lebensalltag sowie die Arbeitsfähigkeit von Betroffenen stark beeinflussen. Dies ist auch belastend für den Arbeitsmarkt. Viele Long-Covid-Patienten konnten ihr altes Arbeitspensum nicht mehr erreichen, einige konnten sogar gar nicht mehr arbeiten. Die Folge davon sind lange Krankschreibungen, weshalb man immer wieder neue «Beweise» benötigt, um seine Glaubwürdigkeit vor dem Arbeitgeber nicht zu verlieren (oder auch seinen Job). Viele dieser Folgen sind für Aussenstehende nicht sichtbar und somit auch nicht greifbar oder nachvollziehbar. Dennoch – sind sie mit steigenden Fallzahlen von Long-Covid-Patienten ein grosses Dilemma für alle Betroffenen. 

Können Sie Angaben zur Inzidenz (Häufigkeit) machen?

In der Schweiz wurden bereits einige Studien zu diesem Thema veröffentlicht. Die meisten berichten von ungefähr 20% der Patienten, die nach einer Corona-Infektion an Long-Covid-Symptomen leiden. Anhand meiner eigenen Erfahrungen würde ich diese Zahl vielleicht etwas tiefer einschätzen.  Vielleicht auf 10-20%. Dabei handelt es sich aber natürlich nur um meine persönliche Einschätzung, die nicht auf einer Studie o.Ä. basiert.

Können Zusammenhänge mit einer vorgängigen Hirnverletzung beobachtet werden?

Wir haben auch Long-Covid-Patienten, die vorgängig eine Hirnverletzung erlitten haben. Anhand unserer Stichprobe sind diese Fälle aber nicht relevant. Es wird daher nicht davon ausgegangen, dass eine vorgängige Hirnverletzung zu einem besonders schweren Corona-Verlauf führt oder Long-Covid-Folgen dadurch begünstigt werden. Jedenfalls kann dies medizinisch nicht begründet werden. 

Bei schweren akuten Verläufen (ca. 30 Betroffene in unserem stationären Patientengut seit März 2020) ist eine Beteiligung des Nervensystems durchaus häufig. Ca. 40% davon haben neurologische Komplikationen. Es gab Hirninfarkte, Hirnblutungen, Schlaganfälle etc. Viele dieser Patienten sind auch kognitiv stark beeinträchtigt.

Welche Thearpieformen werden angewendet?

Aktuell müssen ambulante Patienten mit einer Wartezeit von ungefähr vier Wochen rechnen. Ist die medizinische Diagnostik abgeschlossen, werden die Patienten in unser Trainingsprogramm aufgenommen. Dieses gliedert sich in zwei Phasen, wobei die Rehabilitation im Zentrum steht.
In der ersten Phase, die etwa drei Monate dauert, stehen unterschiedliche Therapien im Vordergrund: Energiemanagement bei Fatigue und/oder Depressionen, danach Achtsamkeit und Psychotherapie. Bei der Physiotherapie handelt es sich um ein eigenes Behandlungsmodul mit physiotherapeutischen Interventionen wie Atemtherapie, medizinische Trainingstherapie, Bewegungstraining, Kraftaufbau u.Ä. Aber auch medizinisch/pharmakologisch gibt es verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten. So beispielsweise Stimulationstherapien, Antidepressiva, Akupunktur, Neuraltherapien bei körperlichen Schmerzen sowie Vitamin-Infusionstherapien bei Mangelerscheinungen. Im Anschluss an die erste Phase wird eine sogenannte «Zwischenanalyse» gemacht: Was ist passiert, was hat sich verändert, was sind mögliche Ziele und was geht heute besser als vielleicht noch vor zwei Monaten? Danach geht es in die zweite Phase. Diese umfasst ein offen gestaltetes Angebot und fokussiert auf einem Selbsttraining der Patienten, um ihre Energie im Alltag selbst zu steuern und zu dosieren. Während durchschnittlich einer Sitzung pro Woche werden zum Beispiel Achtsamkeit und soziale Kompetenz geübt. Die Dauer dieser zweiten Phase ist offen und von den individuellen Fortschritten und Bedürfnissen der Teilnehmenden abhängig.

Mit welcher Entwicklung rechnen Sie für die Zukunft?

Vermutlich wird uns Corona und auch das Thema Long-Covid noch länger beschäftigen. Um einen erneuten hohen Anstieg ausmerzen zu können, hoffe ich, dass sich die Leute impfen lassen. Dadurch kann das Ansteckungsrisiko eingedämmt und somit auch die Chance von Long-Covid vermindert werden. Ich glaube, dass sich viele im Überdruss der Corona-Pandemie nicht bewusst machen, welche Langzeitfolgen eine Corona-Infektion auch für sie nach sich ziehen kann. Oft sind danach lange Krankheitszeiten auszuhalten. Einige Patienten können aufgrund ihrer Folgen ein halbes Jahr oder länger nicht mehr arbeiten. 

Der Ansturm von ambulanten betroffenen Patienten im März/April war beängstigend. Die Zahlen sind jeweils mit der Belegung der Spitalbetten gestiegen oder gesunken. Anhand der erneut negativen Entwicklung hoffe ich, dass die Anfragen aufgrund der steigenden Bettenbelegung, nicht erneut explodieren. Trotzdem ist es extrem wichtig, dass man sich diesem Thema annimmt. Man kann die Leute nicht alleine Zuhause mit ihren Symptomen sitzen lassen. Das machen sie schon lange genug.

Wir gehen davon aus, dass es noch eine Weile dauern wird, bis die Patienten des ersten grossen Runs der zweiten und dritten Welle wieder in ihrem Alltag zurechtkommen. Sollte sich die vierte Welle mit Long-Covid darin integrieren, wären wir entsprechend sehr gefordert. Denn Long-Covid-Patienten beanspruchen eine intensive Betreuung und fordern unsere Ressourcen sehr. Daher hoffen wir, dass diese vierte Welle, die sich bereits andeutet, nicht ganz so schlimm sein wird.

Haben Sie abschliessend noch einen Tipp für Betroffene? Was raten Sie Personen mit Langzeitfolgen nach einer Ansteckung mit dem Corona-Virus oder auch nach einer Hirnverletzung?

Es gibt natürlich kein Patentrezept. Ich würde Betroffenen aber empfehlen eine Spezialsprechstunde aufzusuchen, sollten ihre Symptome nach dem ersten Abklingen länger als vier Wochen anhalten. Aufgrund des hohen Bedarfs kann es sein, dass man etwas warten muss. Dies sollte einen aber nicht davor abschrecken, sich anzumelden und sich untersuchen zu lassen. Es ist sicherlich sinnvoll, sich im Vorfeld darüber zu informieren, welche Therapieprogramme es gibt. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die betroffenen Patienten oftmals viel zu ehrgeizig sind, sich viel zu viel erhoffen, nach dem Motto: Viel hilft viel. Die Diagnostik alleine führt einen nicht zurück ins Leben. Es geht um das richtige Mass und die richtige Dosis und begleitetes Alltagsmanagement.

Zudem glaube ich, dass der Austausch mit anderen Betroffenen sehr wichtig ist und sich lohnt. Es tut gut zu wissen, dass man mit seinen Problemen nicht alleine ist. Oft kann man sich durch den Erfahrungsaustausch auch gegenseitig unterstützen.  

Weiter sollte auch der Versicherungsaspekt keinesfalls ausser Acht gelassen werden. Ist man drei Monate nur zuhause, muss man sich um die IV kümmern (sich proaktiv anmelden), Taggelder müssen geklärt werden etc. Es lohnt sich, sich mit dem Hausarzt und/oder Kollegen der Spezialsprechstunde auszutauschen und alles frühzeitig in die Wege zu leiten. Wenn möglich, würde ich Betroffenen zudem empfehlen, nach Möglichkeit zu versuchen, ein kleines Arbeitspensum aufrecht zu erhalten. So erkennt der Arbeitgeber, dass die Bemühungen da sind – wodurch einer unerwünschten Kündigung entgegengewirkt werden kann.

 

Text: Jana Bauer

Werden Sie aktiv