Pionierin für Menschen mit Hirnverletzung

Seit über vierzig Jahren setzt sich Erika Schwob für die Anliegen betroffener Menschen ein.

Seit über vierzig Jahren setzt sich Erika Schwob für die Anliegen betroffener Menschen ein.

Erika Schwob

Foto: Walter Eggenberger

«Ich habe das Temperament für sieben Personen», schickt Erika Schwob voraus. Wer die 76-Jährige sieht, mag das zunächst kaum glauben. Gerade einmal 43 Kilogramm bringt sie auf die Waage. Sie sitzt seit einem Schwimmunfall mit 17 Jahren im Rollstuhl. Das aber hat sie nicht davon abgehalten, sich für Menschen mit Hirnverletzungen einzusetzen. «Ich konnte zwar nicht klettern, tanzen oder Musik machen, aber man muss sich immer auf das konzentrieren, was man kann, und auf dem aufbauen, was man hat», erklärt sie.

Aufbauen kann Erika Schwob auf einem wachen Geist und unbändigem Lebenswillen. Diesem verdankt sie ihr Leben. Bei einem Sprung ins 40 Zentimeter tiefe Wasser eines Hallenbads zog sie sich vor 60 Jahren Halswirbelbrüche zu. «Höchstens noch drei Tage, die hört bald auf zu atmen», sagten die Ärzte im Kantonsspital Zürich am Krankenbett. Doch sie hörte nicht auf zu atmen. «Ich war jung und voller Energie», sagt sie. Man stabilisierte Schwob im Bett, fixierte an ihrem Schädel eine Zange mit angehängten Gewichten, um die Halswirbelsäule während acht Wochen zu stabilisieren. Anschliessend wurde der Hals für fünf Wochen mit einem Gips versehen. Nach vier Monaten ein wichtiger Meilenstein: Erika Schwob erhält einen Rollstuhl. Es folgen Monate der Rehabilitation in Graz. Krafttraining, Stehtraining, Atem- und Beschäftigungstherapien – der Start in ein neues Leben als Tetraplegikerin.

Auf Neuropsychologie spezialisiert

Erika Schwob will nicht hadern, lernt, mit ihrem Schicksal zu leben. Sie lässt sich als erste Schweizer Tetraplegikerin ein Auto umbauen und lernt Auto fahren. «Die erste Fahrt allein nach bestandener Fahrprüfung führte in den Wald. Dieses Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit vergesse ich nie», sagt Schwob.

Noch während der Rehabilitation eignet sie sich Wissen über die menschliche Physiologie und Anatomie an. Ihren ursprünglichen Wunsch, Medizin zu studieren, um Neurologin zu werden, muss sie als Tetraplegikerin vergessen. In Zürich studiert sie Psychologie. Ihre Dissertation zu den medizinpsychologischen Aspekten der Rehabilitation von Querschnittgelähmten bringt ihr ein Forschungsstipendium an der renommierten Harvard Medical School in Boston, USA, ein. Dort spezialisiert sich Erika Schwob auf Neuropsychologie, arbeitet in einer Spezialklinik für hirnverletzte Kriegsveteranen und nimmt an Forschungsprogrammen teil zu Verletzungen des zentralen Nervensystems und deren Auswirkungen auf kognitive und psychische Prozesse. Ein Thema, das zur Lebensaufgabe wird.

Pionierleistung in Europa

1983 eröffnet sie in Bern ihre eigene Praxis zur therapeutischen Begleitung hirnverletzter Menschen. Damals eine Pionierleistung in Europa. Aus allen Kantonen schicken Ärzte ihre Patienten in die Praxis im 19. Stock eines Hochhauses mit 166 Wohnungen. Dort testet Schwob die neuropsychologischen Funktionen wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Denkfähigkeit, Gesichtsfeldeinschränkungen und Reaktion von Betroffenen. Erika Schwob geht auch in der Therapie neue Wege, baut z.B. Alltagsverrichtungen wie das Kochen als geeignete Massnahme in das Therapieprogramm ein. «Kochen erfordert den koordinierten Einsatz aller Hirnfunktionen, da muss man planen, einkaufen, alles bereitstellen, rüsten, kochen, anrichten und dekorieren. Dafür braucht es Hirn und Hand. Eine ideale Therapie.» Schnell hat sie einen Ruf – und lebt nach ihrem Motto: «Es gibt keine hoffnungslosen Fälle.»

Aus einer Plattform wird FRAGILE Suisse

«Keine Hirnverletzung ist gleich. Jeder Mensch hat einen anderen Familienhintergrund und eine andere Lernbiografie. Jeder Betroffene geht seine Behinderungen anders an», sagt Schwob. Schon bald stellt sie fest, dass Betroffene in der Schweiz einen schweren Stand haben. «Vor allem die Angehörigen haben oft Mühe im Umgang mit der neuen Situation und es fehlen Ansprechpartner.»

Schwob sucht Mitstreiter in ihrem persönlichen Umfeld und gründet mit ihnen eine Selbsthilfegruppe. Sie zieht durch die Schweiz, klärt auf, sensibilisiert. Das Engagement führt sie später rund um den Globus an Kongresse. «Obwohl das mit dem Rollstuhl mühsam sein kann.» Erika Schwob nimmt das auf sich. «Es gehört einfach dazu.» Menschen mit Hirnverletzung hätten mit gravierenderen Problemen zu kämpfen als die mit einer Querschnittlähmung. Vor allem, weil man ihnen ihre Einschränkungen nicht ansehe. «Ich sitze im Rollstuhl, da weiss jeder gleich, was Sache ist.»

1987 lanciert sie eine Plattform für Betroffene und lokale Selbsthilfegruppen für Angehörige. Drei Jahre später wird die Schweizerische Vereinigung für hirnverletzte Menschen gegründet, aus der FRAGILE Suisse hervorgeht. Erika Schwob ist froh, dass es eine Organisation gibt, die Betroffene und ihre Angehörigen im Alltag unterstützt. Sie wünscht sich für die Zukunft, dass diese Form der Beeinträchtigung auch in der Öffentlichkeit mehr Beachtung und Akzeptanz erfährt.

Text: Simon Häring
Mitarbeit am Text: Mathias Haehl, Redaktor «Paraplegie». Publikation mit freundlicher Genehmigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung.

Nachtrag von Ende Oktober 2020

Leider erreichte uns die traurige Nachricht, dass Erika Schwob am 18. Oktober 2020 verstorben ist. Wir sind ihr unendlich dankbar für Menschen mit Hirnverletzung und für FRAGILE Suisse. Wir werden der Verstorbenen ein ehrendes Andenken bewahren.

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