Erfahrungsbericht Hirntumor

Die Autorin Isabel Morf erzählt in diesem Bericht, wie bei ihr ein Hirntumor diagnostiziert wurde - und was davon blieb.

Die Autorin Isabel Morf erzählt in diesem Bericht, wie bei ihr ein Hirntumor diagnostiziert wurde - und was davon blieb.

Ein fremdes Wort

«Höchstwahrscheinlich nicht», sagte die Hausärztin. «Aber wir müssen es ausschliessen.»

«Es deutet nichts darauf hin», sagte die Neurologin nach ein paar Tests. «Aber wir wollen sichergehen.»

«Das ist nun doch ein ziemlich spektakulärer Befund», sagte die Neurologin ein paar Tage später, die Bilder des MRI meines Gehirns betrachtend. «Da ist ein Tumor, etwa so gross wie eine Zwetschge.» Sie sah auf und fügte hinzu: «Aber ziemlich sicher gutartig.»

«Der Tumor ist so gross wie eine Mandarine», präzisierte der Neurochirurg am nächsten Tag. «Gutartig.» Er hatte einen Namen, Keilbeinflügelmeningeom, ein fremdes Wort, das ich gleich wieder vergass.

«In letzter Zeit ist mir ab und zu der Gedanke gekommen, ob ich zu den Menschen gehöre, die nicht sechzig werden», vertraute ich ihm an. «Das wären Sie auch nicht», sagte der Chirurg. «Lange hätten Sie es nicht mehr gemacht.» Ich war sechsundfünfzig. Es war der 19. November 2013.

Am Vorabend der Operation ging der Neurochirurg mit mir und meinem Mann Daniel eine lange Liste von möglichen Nebenwirkungen und Folgen der Operation durch: Verlust des Augenlichts, halbseitige Lähmung, Hirnblutung. Es war mir ziemlich gleichgültig. Der kann das, hatte ich nach dem ersten Gespräch mit ihm gewusst.

Es war leicht, ihm zu vertrauen, ich liess alles seine Sorge sein. Angst hatte ich, so meine Erinnerung, kaum. «Wir assen doch im ‹Sprüngli› miteinander, bevor du ins Spital musstest, und du hattest solche Angst», erinnert mich Yvonne. Im «Sprüngli» mit Yvonne? Angst? Wirklich? Ich weiss es nicht mehr.

2013 ist ein erinnerungsarmes Jahr. Im Juni lud ich Daniel ein Wochenende in ein schönes Hotel in der Innerschweiz ein. Später hatte ich keine Ahnung mehr, wie es ausgesehen hatte und was wir unternommen hatten. Im Sommer 2014 entdeckte ich in meinem Schrank ein Kleid, das ich noch nie gesehen hatte. Es war schön, passte mir und stammte aus einem Geschäft, in dem ich regelmässig Kleider kaufe. Ich muss es im Sommer zuvor dort gesehen, anprobiert, gekauft und in den Schrank gehängt haben.

«An was für Symptomen haben Sie gemerkt, dass mit Ihnen etwas nicht in Ordnung war?», fragte mich eine Medizinstudentin. Kopfschmerzen. Irgendwann im Herbst hatte ich jeden Tag Kopfschmerzen. Jeden Tag mehrere Schmerztabletten, dann zur Ärztin.

Und vorher? Hatte es Anzeichen gegeben?

Müdigkeit. Ich erneuerte das Zeitungsabo nicht mehr, gab den Italienischkurs auf, nahm mir eine Putzfrau. In den vierten Stock kam ich nicht mehr ohne Pause. Abends ging ich um neun zu Bett. Aber ich schaffte meine Arbeit noch und ich schrieb mein Buch fertig. Also konnte nichts Ernsthaftes mit mir los sein. Die Blutwerte waren normal. Wechseljahre, diagnostizierte ich. Du wirst aufs Alter ein fauler Sack, beschimpfte ich mich. Du bist gesund, du hast ein schönes Leben, also reiss dich zusammen.

Aber dazu war ich zu schlapp.

«Als du uns über Ostern 2013 auf Sylt besucht hast, warst du verändert», sagte Linus. «Du warst irgendwie fahrig.» «Du warst total auf dich bezogen, hast nichts mehr ausserhalb von dir wahrgenommen, du interessiertest dich nicht mehr dafür, was ich dir erzählte», sagte Ingrid. «Und du warst so langsam. Ich überlegte mir, ob du dement wirst.» Sie nannte mir Beispiele. Ich zuckte die Schultern. Die Erinnerung kam nicht. Langsam? Selbstbezogen? Fahrig? Das wissen die anderen besser als ich.

Ein paar Jahre zuvor. Ich trat aus dem Haus an der Zürcher Zurlindenstrasse, wo Beat wohnte. Eine vertraute Gegend. Plötzlich war die Vertrautheit weg. Ich war völlig orientierungslos. Zwar erkannte ich in einiger Entfernung das Lochergut und auf der anderen Seite die Ämtlerstrasse. Aber das half mir nicht weiter.

Ich ging über die Strasse, zu einem Geschäft. Schaute ins Schaufenster. Wusste nicht, was tun. Hatte Angst. War verloren. Dann ging ich weiter, über den Idaplatz, kam in die Gertrudstrasse. Auf einmal war alles wieder wie gewohnt, ich fand mich mühelos zurecht. Ich beschrieb diesen Vorfall zwei Ärzten. Keiner ging darauf ein. Später erzählte ich es Daniel. Er regte sich auf: «Das hätte man abklären müssen.» Da wäre ich noch jünger gewesen, der Tumor kleiner.

«Sie redet, sie bewegt, sie sieht», meldete der Chirurg nach der zehnstündigen Operation Daniel. Ich war so geschwächt, dass ich nicht einmal selbst aufsitzen konnte – und von Aufstehen war noch keine Rede. Aber ich begann das Buch zu lesen, das Sabina mir mitbrachte. Ganz langsam, und ich verstand alles. Ich telefonierte mit Freunden, freute mich über Besuch. Komplett erschöpft, aber kaum Schmerzen. So weit zufrieden.

«Ich war die ersten Tage sehr in Sorge», erzählte mir der Chirurg viel später. «Sie hätten eine Hirnblutung erleiden können.» Ach so, da war ich also noch nach der Operation in Gefahr gewesen. Aber nichts passierte, alles ging gut. Der Künstler John Armleder hatte nach einer Hirnoperation eine Hirnblutung gehabt, «was mich für Jahre auf einen anderen Planeten katapultierte», las ich später in einer Zeitschrift.

Ein paar Tage war ich fürchterlich aufgedreht von der hohen Dosis Cortison. Peinlich, im Nachhinein. Niemand hatte mich gewarnt. Und diese aufgedunsene Cortison-Visage. Nun, ich schaute ja kaum in den Spiegel. Thomas, der mich so zu Gesicht bekam, reagierte ziemlich befremdet und versicherte mir Monate später bei einem Kaffee erleichtert, man sehe mir jetzt überhaupt nichts mehr an.

Das erste Mal Haare waschen war ein Luxus. Nein, der Chirurg hatte mir nicht den Kopf rasiert. Die anderen Chirurgen tun das, er nicht. Er hatte dort, wo er nachher den Schädel aufsägte, einen Scheitel gemacht und rechts und links davon das Haar zu kleinen Zöpfen geflochten. Ich war ihm sehr dankbar. Um keinen Preis wäre ich erst mit einem Kopftuch und dann monatelang mit einer «pfiffigen Kurzhaarfrisur», wie es Renate nannte, herumgelaufen. Meine Coiffeuse Silvia hätte mir sicher geholfen, eine schöne, beschützende Perücke zu finden.

Von dem, was kommen sollte, hatte ich keine Ahnung. Mehr als zwei Jahre später fragte Beat, den ich selten sehe: «Du lebst immer noch jeden Tag damit?» Ja, jeden Tag. «Das haben sie dir nicht gesagt?» Nein, sie sagen es einem nicht. Oder hatte ich es nicht hören wollen?

«Der grösste Teil der Erholung passiert in den ersten zwei Jahren nach der Operation», hatte der Chirurg erklärt. Hätte ich daraus schliessen müssen, dass ich vielleicht zwei Jahre oder länger an dieser Sache herumlaborieren würde? Ich tat es nicht.

«Früher», hatte der Chirurg gesagt, «hat man die Patienten automatisch ein halbes Jahr krankgeschrieben.» Das hatte mich nicht stutzig gemacht. Nein, ich würde im Februar halbtags zu arbeiten beginnen und im März wieder voll einsteigen. «Wollen Sie sich das wirklich antun?», fragte die Ergotherapeutin in der Rehaklinik. Diesmal stutzte ich. War die Sache vielleicht doch nicht so zügig hinter mich zu bringen?

Ich konnte nicht schlafen. Schlafmittel waren auf die Dauer nicht die Lösung. Mein Arzt schickte mich zu einer Psychologin, um Entspannungsübungen zu lernen. «Meine Stirn ist entspannt, mein Kiefer ist entspannt, meine Schultern.» Und so weiter.

Dann schlug mir die Frau vor herauszufinden, warum ich einen Hirntumor gehabt hatte. «Die Methode nennt sich: ‹The journey›. Ich finde es einen spannenden Ansatz.» Wie bitte? Als ich naserümpfend sagte, das sei mir zu esoterisch, reagierte sie betupft. Ich ging nie wieder zu ihr. Monika sagte: «Es ist ja kein Zufall, dass du ausgerechnet einen Hirntumor hattest.» Ich fragte nicht nach, was der Umstand, dass eine von Milliarden Zellen in meinem Kopf plötzlich fehlfunktionierte, mit meiner Persönlichkeit oder meinem Lebenslauf zu tun haben sollte.

Im März, drei Monate nach der Operation, fing ich wieder mit Arbeiten an, ganz vorsichtig. Winziges Pensum. Mehr Ruhepausen im Sanitätszimmer als Arbeitszeit im Büro. Aber ich konnte es noch genauso gut wie vorher.

Allerdings war da die Sache mit jenem technischen Gerätchen, das ich im Frühjahr 2014 kaufte. Die Verkäuferin erklärte, wie es zu bedienen war. Es war sehr, sehr schwierig; ich hatte keine Chance, es mir zu merken, auch nicht nach mehrmaliger Erläuterung.

Zwei Jahre später ging mir auf, dass die Handhabung des Dings ja gar nicht kompliziert war. Im Gegenteil, es war bubileicht. Bloss für mich war es damals nicht zu bewältigen gewesen. Das ging mir erst im Nachhinein – aus grösser werdender Entfernung – auf. In welchen Situationen sich meine Beeinträchtigung sonst noch ausgewirkt hatte – und auf welche Weise? Schulterzucken. Gewiss nicht nur beim Kapieren eines technischen Geräts.

«Nein, Sie sind nicht krank», sagte der Chirurg bei der jährlichen Besprechung. «Nein, Sie sind auch nicht behindert.» Handicap, nannte ich es versuchsweise. Einschränkung? Ich finde kein passendes Wort. Nicht mehr ganz hundert.

Wie fühle ich mich, wenn die Fähigkeit meines Hirns, Reize zu verarbeiten, innert Minuten abnimmt? Bis mir im äussersten Fall nur noch bleibt, die Augen zu schliessen und die Ohren zu verstopfen? Das lässt sich nicht in die Sprache der anderen, die das nicht kennen, übersetzen. Was wäre das Ende? Absturz des Systems? Totale Finsternis durch Stromausfall? Gäbe es mich nicht mehr?

Fortan lebte ich mit einem Gehirn in zwei Zuständen.

Der eine Modus: Ich war wie früher. Denkfähig, kreativ, produktiv. Ich redigierte Texte, schrieb im zweiten und dritten Jahr ein neues Buch. Wie ich das fertigbrachte, ist mir allerdings ein Rätsel.

Der andere Modus: kläglich wenig Ausdauer. Nach anderthalb bis zwei Stunden Arbeit k.o. Voll an die Wand gefahren, wenn ich die Signale, dass eine Pause fällig war, überging. In den ersten drei Jahren nach der Operation lag ich viele, viele Abende vollkommen untätig auf dem Sofa. Nicht lesen, kein Radio und schon gar kein Fernsehen. Nicht reden. Alles zu viel.

«Ich bin jetzt auch dieses Langsame in mir», kritzelte ich in einen Notizblock.

Aufbegehren dagegen ist zwecklos. Befehlen lässt sich das Hirn nichts. Es erholt sich selber, und zwar so langsam, wie es ihm passt; man muss es einfach machen lassen.

Dann kann es unversehens einen Zacken zulegen: Es verträgt auf einmal, dass man am Sonntagnachmittag zwei Stunden am Stück liest. Es arrangiert es so, dass man nach dem Feierabend-Tief nochmals eine ganze Weile gut drauf ist. Und es lässt einen auch nicht büssen, wenn man nach der Ballettaufführung noch auf einen Drink in eine Bar geht.

Text: Isabel Morf


Die Autorin dieses Textes veröffentlichte 2017 den Roman «Selbsanft».
Lesen hier unsere Rezension.

Zur Webseite von Isabel Morf


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