«Für Einsamkeit muss sich niemand schämen»

In der Schweiz fühlen sich 36 Prozent der Bevölkerung einsam. Eine hohe Zahl. Wie ist das bei Menschen mit Hirnverletzung? Neuropsychologin Martina Hoffmann im Interview.

In der Schweiz fühlen sich 36 Prozent der Bevölkerung einsam. Eine hohe Zahl. Wie ist das bei Menschen mit Hirnverletzung? Neuropsychologin Martina Hoffmann im Interview.

Martina Hoffmann, was genau bedeutet Einsamkeit? Ist es gar eine Krankheit?

Man muss klar unterscheiden zwischen «alleine sein» (oder «sozial isoliert sein») und «sich einsam fühlen». Der Begriff der Einsamkeit beschreibt das Gefühl des «sich-alleine-Fühlens». Sich einsam fühlen heisst nicht zwingend, dass man auch alleine ist. Man kann in einer Familie, in einem Verbund sein und sich trotzdem einsam fühlen. Einsamkeit ist keine Krankheit. Aber wenn jemand längere Zeit darunter leidet, kann sie Stressreaktionen auslösen und Krankheiten wie Depression, Suchtverhalten und anderes begünstigen. «Alleine sein» muss dagegen nicht zwingend als negativ empfunden werden. Gerade Menschen mit Hirnverletzung empfinden das «alleine sein» zuweilen auch als erholsam.

Laut einer Studie des Bundes fühlen sich in der Schweiz 36 Prozent der Bevölkerung einsam. Eine sehr hohe Zahl.

Diese Zahl ist in der Tat sehr hoch. Trotzdem muss man sie relativieren, es wurden auch Personen erfasst, die sich ab und zu einsam fühlen. In meinen Augen gehört Einsamkeit auch zum Menschsein. Es ist völlig normal, wenn man sich manchmal einsam fühlt. Einsamkeitsgefühle treten oft auf, wenn Lebensumbrüche (wie Umzug, Veränderung der beruflichen oder familiären Situation) auftreten. Dann verändert sich oft auch das soziale Gefüge und Einsamkeitsgefühle können auftreten.

Sie sagen, sich ab und zu einsam zu fühlen ist normal. Ab wann wird es denn gefährlich?

Wenn man längere Zeit, mehrere Wochen unter dem Einsamkeitsgefühl leidet und keine Massnahmen dagegen ergreift oder ergreifen kann, ist es sicher sinnvoll, sich professionell helfen zu lassen.

Auch bei Menschen mit Hirnverletzung ist Einsamkeit ein zentrales Thema.

Es ist ein wichtiges Thema, auch wenn es nicht häufig direkt angesprochen wird. Oft schämen sich die Patienten, haben ein Gefühl von Versagen. Wie erwähnt, tritt Einsamkeit oft auf, wenn eine Änderung im Leben stattfindet. Und eine Hirnverletzung ist eine gravierende Veränderung, weil sie oftmals Auswirkungen auf das Zusammenleben in der Familie und im Freundeskreis, auf die Berufstätigkeit, die Freizeitgestaltung oder auch die finanziellen Möglichkeiten hat.
Viele Betroffenen können aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen oder der verminderten Belastbarkeit nicht mehr im selben Ausmass an sozialen Aktivitäten teilnehmen wie vor einem Ereignis oder einer Erkrankung. Damit haben sie auch weniger Möglichkeiten, sich sozial zu vernetzen, was soziale Isolation und damit auch Einsamkeitsgefühle begünstigen kann.
Weiterhin berichten auch Betroffene, die trotz aller Erschwernisse sozial gut vernetzt sind, dass sie sich zuweilen einsam fühlen. Für Aussenstehende ist es oftmals schwierig, das Ausmass der unsichtbaren Verletzungen zu erkennen und zu verstehen. Dies kann bei Betroffenen zu einem Gefühl führen, dass sie sich «alleine in ihrer Welt» und unverstanden fühlen, was Einsamkeitsgefühle begünstigen kann.

Was können Betroffene dagegen tun?

Es gibt keine massgeschneiderten Rezepte, weil die Bedürfnisse der Betroffenen unterschiedlich sind. Es gibt aber viele Wege, die helfen können, die Einsamkeitsgefühle zu mildern. Es kann z.B. hilfreich sein, sich mit anderen Betroffenen zu verknüpfen. Zum Beispiel die Selbsthilfegruppen und  Gesprächsgruppen und Freizeitangebote von FRAGILE Suisse für Betroffene erachte ich als sehr hilfreich. Betroffene merken, dass sie nicht alleine sind, können sich mit anderen austauschen, die sich gleich oder ähnlich fühlen und sie verstehen.
Wichtig für Aussenstehende scheint mir, dass Betroffene nicht gegen deren Willen zu sozialen Aktivitäten gedrängt werden. Wie gesagt, kann es für Menschen mit Hirnverletzung auch erholsam und notwendig sein, sich zurückzuziehen. Wenn jedoch Betroffene unter dem Alleinsein leiden, sollten sie (und deren Angehörige) nicht scheu sein, sich Hilfe bei einer Fachperson zu holen. Denn dafür muss sich niemand schämen. Mit Hilfe einer Fachperson gilt es, einen für die Situation und die Bedürfnisse der betroffenen Person hilfreichen Weg aus der Einsamkeit zu suchen. Dabei geht es häufig darum zu überlegen, wie die Lebenssituation den veränderten Bedingungen, die sich nach einer Hirnverletzung oder -erkrankung ergeben, optimal angepasst werden kann. Hierbei geht es auch darum, Ressourcen auszuloten oder Interessen oder Aktivitäten in den Fokus zu rücken, die gut gelingen oder einem guttun.

- Interview: Carole Bolliger; Quelle: Magazin FRAGILE Suisse 3/2018

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