«Ich musste mich und mein Leben wieder kennen lernen»

Gabriella Ch. stand mitten im Arbeitsleben, als sie im Mai 2013 eine Hirnblutung wortwörtlich umhaute. Die heute 58-Jährige konnte sich danach an nichts mehr erinnern.

Gabriella Ch. stand mitten im Arbeitsleben, als sie im Mai 2013 eine Hirnblutung wortwörtlich umhaute. Die heute 58-Jährige konnte sich danach an nichts mehr erinnern.

Foto: Ethan Oelman

«An was ich mich nach der Hirnblutung als Erstes erinnere? Das weiss ich nicht. Mein Leben war komplett weg, als ich im Mai 2013 nach etwa einer Woche aus dem Koma erwachte. Ich hatte eine Hirnblutung, erzählte man mir. Ich konnte mich an nichts erinnern, erkannte niemanden wieder, auch mich selber nicht. Ich wusste nicht, wer ich bin. Anscheinend bin ich auf meinem Balkon umgekippt. Meine Tochter hat mich gefunden und sofort den Notarzt gerufen. Wie lange ich aber ohnmächtig dalag, das weiss ich nicht. Im Spital wurde ich sofort am Hirn operiert.

›J’ai mal au cul‹ (Deutsch: Mein Po tut weh), das waren meine ersten Worte nach dem Koma. Ich konnte die deutsche Sprache nicht mehr, obwohl es meine Muttersprache ist. Aber auf Französisch konnte ich mich verständigen. Die Ärzte sagten mir, dass ich einen Geburtsfehler hatte und eine Hirnblutung früher oder später mal kommen musste. Gewusst hat man es natürlich nicht.

Ein mehrmonatiger Rehaaufenthalt folgte nach dem Spital. Auch die deutsche Sprache kam wieder, mir ging es körperlich ziemlich gut und ich konnte wieder alleine leben. Aber mein Gedächtnis war weg. Zum Glück hatte ich seit meiner Jugendzeit Tagebücher geschrieben. So habe ich Hunderte von Tagebuchseiten durchgelesen, um mich selber kennen zu lernen und zu erfahren, wie mein Leben war. Auch meine Familie, meine Tochter und mein Ex-Mann sowie viele gute Freunde waren eine grosse Hilfe. Sie erzählten mir von meinem Leben, zeigten Fotos. Alle gaben sich grosse Mühe. Trotzdem ging es mir psychisch sehr schlecht. Ich bin tagelang durch Zürich gefahren, die Stadt, in der ich aufgewachsen bin und in der ich jede Ecke kannte. Alles war mir fremd. Ich wollte nicht mehr und habe mich bei Exit eingeschrieben. Ich wollte selber über mein Leben oder eben Sterben entscheiden. Doch sobald ich mich dort angemeldet hatte, passierte etwas mit mir. Was, kann ich nicht sagen, aber auf einmal kehrten meine Lebensgeister zurück – ich wollte leben.

Langsam, aber sicher fand ich wieder Lebensfreude. Ich arbeitete wieder Teilzeit als Personalberaterin, mir ging es ziemlich gut. Bis zum nächsten Schlag. Im Winter 2015 konnte ich plötzlich nur noch beschwerlich gehen, eines Tages konnte ich nicht mehr aufstehen. Ich war von der Brust an abwärts gelähmt. Monatelang haben verschiedene Ärzte versucht, herauszufinden, was ich habe. Ohne Erfolg. Das war eine sehr schwere Zeit. Irgendwann dann fand ein Arzt heraus, dass ich an Syringomyelie leide. Eine sehr seltene Krankheit des Rückenmarks, die durch mit Flüssigkeit gefüllte Hohlräume im Rückenmarkskanal gekennzeichnet ist. Diese Höhlen verdrängen das umgebende Nervengewebe, was zu Ausfallerscheinungen führt (Anm. d. Red.). Da diese Krankheit so selten ist, habe ich mich als Forschungsobjekt angemeldet. Das motiviert mich und ich hoffe, dass ich jemand anderem damit helfen und ihm vielleicht diese Schmerzen ersparen kann. Schmerzen am Rücken habe ich nämlich so gut wie immer. Ich muss mich immer wieder Operationen unterziehen, damit die Ausfälle nicht fortschreiten. Laufen werde ich nie mehr können. Aber schwimmen kann ich gut. Und ich habe sogar das Tauchbrevet gemacht.

Unter vielen Menschen bin ich nicht gerne – das ist mir zu laut und zu anstrengend. Auch helles Licht kann ich nicht gut ertragen. Damit ich morgen noch weiss, was ich heute gemacht habe, muss ich es mir aufschreiben. Alles, was mit Zahlen zusammenhängt, das kann ich mir merken, daran erinnere ich mich. Aber an Buchstaben nicht. Ich habe einen Weg gefunden, wie ich mein Leben gut gestalten kann. Ich bin gerne unter Freunden, besuche diese in der ganzen Schweiz. Dafür reise ich alleine im Rollstuhl mit dem Zug. Mir geht es eigentlich ganz gut, ich bin zufrieden.»

Nachgefragt

mit Manon Ch., Tochter von Gabriella Ch.

Manon Ch., Sie als Angehörige hatten Hilfe von FRAGILE Suisse. Wie sah diese aus?

Meine Familie und ich waren sehr überfordert mit der Situation. Durch einen Freund meiner Mutter haben wir von FRAGILE Suisse erfahren. Ich habe das Angebot der Sozialberatung in Anspruch genommen. Man hat mir zum Beispiel bei Anträgen an die Sozialversicherungen und bei anderen Büroarbeiten geholfen.

Wie hat Ihnen das geholfen?

Es hat mich sehr entlastet, da ich alleine die Fertigkeiten nicht besass, um mit dem bürokratischen Aufwand klarzukommen. Meine Beraterin war sehr flexibel und ist auf meine individuellen Bedürfnisse eingegangen, das habe ich sehr geschätzt. Schon in der Zeit, während meine Mutter noch im Spital war, und auch danach hätte ich ein solches Unterstützungsangebot wie das von FRAGILE Suisse gebraucht.

Wem würden Sie empfehlen, sich Hilfe bei FRAGILE Suisse zu holen?

Ich würde es jedem empfehlen, der sich überfordert und/oder hilflos fühlt. Sei es, um Papierkram zu erledigen oder um sich gewisse Dokumente erklären zu lassen.

Film mit Manon Ch.


Gabriella Ch. hat in erster Linie Hilfe und Unterstützung von FRAGILE Suisse mit dem Begleiteten Wohnen erhalten. Während etwas mehr als einem Jahr hat sie die Dienstleistung Begleitetes Wohnen in Anspruch genommen. So lange, bis sie aufgrund der sich stets verschlechternden Mobilität nicht mehr in ihrer alten Wohnung bleiben konnte. Mit Hilfe von Julia Eugster, Sozialberaterin von FRAGILE Suisse, hat sie ihr jetziges Zuhause, eine betreute Wohnung, gefunden.


Text: Carole Bolliger (Magazin FRAGILE Suisse 1/2019, S.4)

Magazin FRAGILE Suisse

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