«Mein eigenes Leben stellte ich hinten an»

Eine Hirnverletzung kann nicht nur das Leben der betroffenen Person auf den Kopf stellen. Auch für die Angehörigen ist es oft eine Herausforderung. Tina Ziegler erzählt, wie sich ihr Leben nach dem Schlaganfall ihrer Mutter änderte.

Eine Hirnverletzung kann nicht nur das Leben der betroffenen Person auf den Kopf stellen. Auch für die Angehörigen ist es oft eine Herausforderung. Tina Ziegler erzählt, wie sich…

„Ich hatte die ganze Zeit ein komisches Gefühl“, erinnert sich Tina Ziegler an den einen Tag im Juli 2011 zurück, der ihr Leben und das ihrer Mutter veränderte. Nach einem morgendlichen Anruf ihrer Mutter, den sie verpasst hatte, konnte Tina Ziegler sie den ganzen Tag nicht erreichen. „Ich habe gespürt, dass etwas nicht stimmt, aber gehofft, dass sie einfach beschäftigt ist.“

Am Abend fuhr sie zusammen mit ihrem Partner zur Wohnung ihrer Mutter. Durchs Fenster sah sie diese auf dem Sofa liegen, der Fernseher lief, ihre linke Hand bewegte sich etwas, ansonsten rührte sie sich nicht. Kurzerhand brachen Tina Ziegler und Kurt Settelen die Tür auf. „Sie lag nur da, war voller Urin, ihre rechte Hand war ganz schlapp, sie gab ein paar vereinzelte Töne von sich und verlor immer wieder das Bewusstsein“, erzählt Tina Ziegler. Die Erinnerung an den Anblick ihrer hilflosen Mutter schmerzt sie.

Mit Hirnschlag auseinandergesetzt

Die Notärztin kam, machte ein EKG, welches keine Unregelmässigkeiten aufwies. „Ich dachte, ihr Herz funktioniert, dann kann es nicht so schlimm sein. An einen Hirnschlag dachte ich überhaupt nicht.“ Doch genau das erlitt Maria Ruchonnet. Sie war damals zwar schon 80 Jahre alt, aber abgesehen von ein paar kleineren gesundheitlichen Problemen ging es ihr noch gut, sie lebte alleine, kümmerte sich selber um alles.

Maria Ruchonnet lag längere Zeit im Unispital, sie konnte nicht mehr reden und war halbseitig gelähmt. Wenn ihre Tochter nicht gerade bei ihr am Krankenbett sass, setzte sie sich mit dem Thema Hirnschlag auseinander, las viele Bücher. „Ich wollte möglichst gut verstehen, was mit meiner Mutter passiert war.“ Das Gedächtnis der Betroffenen war noch da, auch wenn das Kurzzeitgedächtnis unter der Verletzung gelitten hatte. „Die ersten Tage habe ich einfach funktioniert. Ich spürte keine Wut, keine Trauer“, erinnert sich Tina Ziegler. Das Schlimmste für sie sei gewesen, dass sie sich um alles kümmern musste. „Ich wäre in diesem Moment gerne nur Tochter und für sie dagewesen, aber es gab so viel Administrationsarbeiten im Zusammenhang mit meiner Mutter zu erledigen.“ Nach ein paar Tagen erlangte Maria Ruchonnet das Reden wieder. „Das war ein schöner Moment“, so ihre Tochter.

Ein schwieriger Schritt

Obwohl die Ärzte ihr sagten, dass sie nie mehr werde laufen können und von jetzt an immer im Rollstuhl sein müsse sowie voll pflegebedürftig sei, kämpfte Maria Ruchonnet. Die Reha nach dem Spitalaufenthalt half und die Betroffene machte grosse Fortschritte. Jeden zweiten Tag besuchte Tina Ziegler ihre Mutter in der Reha und therapierte sie weiter. Nach ein paar Wochen lief Maria Ruchonnet wieder. „Das war ein wunderschöner Moment, denn damit hatte niemand mehr gerechnet.“ Plötzlich hiess es, nach der Reha müsse sie vielleicht nicht mehr in ein Heim. Trotzdem entschieden sich Tina Ziegler und ihr Bruder zusammen mit dem Hausarzt, dass es besser wäre, wenn sie in ein Heim käme. „Es war einfach zu gefährlich, wenn sie alleine Zuhause gewesen wäre“, erklärt Tina Ziegler. Das war ein schwieriger Schritt. Für ihre Mutter, aber auch für sie. „Wir haben zusammen verschiedene Pflegeheime angeschaut, aber meine Mutter war sehr traurig, sie wollte nicht in ein Heim. Das hat auch mir wehgetan. Trotzdem ging es nicht anders“, ist Tina Ziegler auch heute noch überzeugt.

Viele Entscheidungen treffen

Mehrere Stunden täglich besuchte und therapierte Tina Ziegler ihre Mutter, ging mit ihr in den Garten und machte Gedächtnisübungen mit ihr. Der Spagat zwischen Arbeit, Privatleben und ihrer Mutter sei nicht immer einfach gewesen. „Ich habe mich und mein eigenes Leben hintenangestellt.“ In dieser Zeit habe sie viel gelernt. Unter anderem, dass Mitleid den Betroffenen gegenüber nichts bringe. „Mitgefühl, Liebe, Vertrauen und Motivation, das ist wichtig.“ Schlimm für Tina Ziegler war, dass sie immer wieder viele Entscheidungen für ihre Mutter treffen musste: Kommt sie in ein Heim oder nicht? Wenn ja, in welches Heim? Was passiert mit ihrer Wohnung, ihren Sachen, was kommt mit und was nicht? „Ich habe meiner Mutter einen grossen Teil ihrer Selbständigkeit wegnehmen müssen, das war schwierig, manchmal fühlte ich mich so hilflos“, sagt Tina Ziegler. Ihr Bruder und ihr Partner seien ihr während der ganzen Zeit eine grosse Hilfe und Stütze gewesen. „Wenn ich damals gewusst hätte, dass es eine Organisation wie FRAGILE Suisse gibt, hätte mir das sehr geholfen“, ist Tina Ziegler überzeugt. Sie hätte sich gerne mit anderen Angehörigen von Betroffenen ausgetauscht. Deshalb ist es ihr ein Anliegen, ihre Geschichte in der Öffentlichkeit zu erzählen. „Man soll nie aufgeben und einfach für sie da sein.“

Motivation

Tina Zieglers Mutter starb anfangs November 2014, rund drei Jahre nach ihrem Schlaganfall. Ob an den Folgen der Hirnverletzung oder Altershalber könne man nicht sagen. Tina Ziegler ist dankbar, dass sie ihre Mutter die letzten Jahre ihres Lebens so stark unterstützen konnte. Ab und zu macht sie sich noch Vorwürfe, dass sie nicht schneller reagiert hatte, als sie ihre Mutter am Tag des Hirnschlags nicht erreichen konnte. Aber sie hat aus dem Erlebten auch viel Kraft mitgenommen und ist dankbar, für das, was sie hat. „Am meisten vermisse ich die guten Gespräche mit meiner Mutter“, sagt sie, während sie die letzte Strickerei ihrer Mutter zeigt, die nie vollendet wurde.
«Ich möchte allen Angehörigen Mut machen, die Betroffenen nicht allein zu lassen, sie brauchen viel Zeit, um zu lernen, was nicht mehr da ist. Sie brauchen unsere  Motivation, denn sie erreichen so sehr viel», ist Tina Ziegler überzeugt.

Text: Carole Bolliger, Fotos: Ethan Oelman

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