«Plötzlich ist man eine andere Person»

Entdecken Sie in der neuesten Ausgabe des Magazins FRAGILE Suisse unseren Fachartikel über das Frontalsyndrom und seine Folgen.

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Bilder: National Institutes of Health (NIH)

Eine Hirnverletzung ist nicht gleich eine Hirnverletzung. So unterschiedlich die betroffenen Personen sind, so unterschiedlich und komplex können auch die oft unsichtbaren Verletzungen und die daraus resultierenden Probleme und Symptome sein. In dieser Ausgabe nehmen wir das sogenannte «Frontalhirnsyndrom» und dessen Folgen etwas genauer unter die Lupe. 

Phineas Gage arbeitete im 19. Jahrhundert bei einer amerikanischen Eisenbahngesellschaft. Bei einem schweren Arbeitsunfall schoss ihm eine Eisenstange durch den vorderen Teil seines Schädels, dem Ort, in dem das Frontalhirn sitzt. Er überlebte und seine Wunden heilten. Dieser Unfall ist für die neurowissenschaftliche Forschung von grosser Bedeutung. Denn schon nach wenigen Wochen war er körperlich wiederhergestellt. Auch seine intellektuellen Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Gedächtnis oder Sprachfähigkeit waren völlig intakt. Trotzdem war er in seiner Persönlichkeit komplett verändert. Aus dem freundlichen und ausgeglichenen Mann wurde ein kindischer, impulsiver und unzuverlässiger Mensch. «Dieses Krankheitsbild wurde später aufgrund seines Verletzungsortes als Frontalhirnsyndrom bekannt», erklärt Neuropsychologin Dr. Martina Hoffmann. Heute weiss man, dass nicht nur Schädigungen im Frontalhirn (oder «Stirnhirn») entsprechende Auffälligkeiten auslösen können, da das Frontalhirn in einem komplizierten Netzwerk mit anderen Hirnregionen verbunden ist.

Zahlreiche Symptome

Dieses Netzwerk kommt einer «übergeordneten Schaltzentrale» gleich. Es überwacht, analysiert und steuert unser Denken und Verhalten. Wenn ein Frontalhirnsyndrom vorliegt, sind häufig Funktionen gestört, die wir dazu brauchen, um Relevantes zu erkennen, zu planen und vorauszuschauen, uns flexibel auf eine Situation einzustellen, unser Verhalten zu kontrollieren oder Funktionen, die wir für das Sozialverhalten brauchen (z.B.Gefühle erkennen, Wahrnehmung für soziale Signale, Feedbackverarbeitung). Weiterhin kann auch die Gefühlsverarbeitung und -steuerung betroffen sein, indem die Gefühle gesteigert oder aber verarmt sind.

Auch Verhaltensauffälligkeiten gehören zu den Symptomen wie das Fehlen von Taktgefühl, Distanzlosigkeit oder ein veränderter Antrieb (z.B. Antriebslosigkeit oder aber übersteigerter Antrieb). Für Aussenstehende und manchmal auch für die Betroffenen sind diese Auffälligkeiten oft sehr schwer zu verstehen. «Es hat nichts mit dem Willen des Betroffenen zu tun», sagt Hoffmann. «Die Betroffenen können sich schlichtweg nicht anders verhalten». Das Schwierige an diesem Syndrom und an dessen Folgen ist, dass sie in einer normalen Untersuchung nicht einfach zu erkennen sind. Die Symptome werden daher nicht selten als psychische Anpassungsstörung eingeordnet oder die Betroffenen werden als «willenlos» oder «charakterschwach» gesehen.

Lebensqualität verbessern

Für Menschen mit Frontalhirnsyndrom, aber auch für deren Angehörige ist es sehr wichtig, professionelle Hilfe zu bekommen. Denn je besser sie über das Krankheitsbild informiert sind, desto besser können sie das Verhalten oder die Gefühle des Betroffenen verstehen und einordnen. Laut der Fachfrau stellt das Frontalhirnsyndrom eines der am schwierigsten zu beeinflussenden Syndrome von Hirnverletzungen dar. Die Therapie hängt stark von der Art der Symptome sowie vorhandener Ressourcen ab. «Bei der Therapie können wir weniger über die bewusste oder willentliche Steuerung arbeiten, weil diese Funktionen oft selbst betroffen sind», erklärt sie. So wird vielmehr versucht, den Alltag des Betroffenen in kleinen Schritten optimal anzupassen, damit sich dessen Lebensqualität verbessert.  Hierzu gehört zum Beispiel, dass man bei einer Antriebsstörung versucht, Routinen für Tätigkeiten aufzubauen. Dr. Martina Hoffmann schätzt dabei die Zusammenarbeit mit den Wohnbegleiterinnen von FRAGILE Suisse, welche die betroffene Person und ihre Angehörigen vor Ort direkt anleiten können. «Man muss sich aber bewusst sein, dass die Fortschritte oft nur klein sind, viel Zeit in Anspruch nehmen und sich leider nicht immer ein Therapieerfolg einstellt», so Hoffmann.

Text: Carole Bolliger (Magazin FRAGILE Suisse 4/2018, S.7)

 

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