Wie umgehen mit Corona?

Wie wirkt sich die Corona-Krise auf Menschen mit Hirnverletzung aus? Neuropsychologin Dr. Martina Hoffmann im Interview.

Wie wirkt sich die Corona-Krise auf Menschen mit Hirnverletzung aus? Neuropsychologin Dr. Martina Hoffmann im Interview.

Martina Hoffmann

Martina Hoffmann

Dieses Interview wurde vor Ostern, inmitten der Corona-Krise, geführt.

Die Corona-Krise ist für alle Menschen eine Herausforderung. Ist es für Menschen mit Hirnverletzung noch schwieriger?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Es kommt sehr auf die Lebenssituation an, in der jemand ist. Ich höre beide Seiten. Viele Betroffene sehen die aktuelle Situation positiv. Alles ist etwas ruhiger und langsamer, was ihnen gelegen kommt. Sie müssen keine Termine wahrnehmen oder sozialen Verpflichtungen nachkommen. Viele finden jetzt den Mut, über ihr eigenes Befinden zu reden. Zurzeit ist es sozial anerkannt zu sagen, dass man Angst hat, überfordert ist, sich Sorgen um die Arbeitsstelle macht oder finanzielle Ängste hat.

Aber es gibt auch negative Punkte?
Natürlich gibt es auch negative Seiten. Für viele Menschen mit Hirnverletzung ist es eine ganz grosse Herausforderung, mit der jetzigen Situation klarzukommen. Menschen, die sonst schon einsam sind und auf den Austausch mit anderen, zum Beispiel in Selbsthilfegruppen, angewiesen sind, sind im Moment noch einsamer. Auch für Familien mit schulpflichtigen Kindern, die Homeschooling machen müssen, ist es derzeit eine sehr grosse Herausforderung.

Es ist schwierig, dies alles zu organisieren, die Belastungsanforderung ist sehr gross. Ein ganz grosses Thema sind dabei die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten. Viele Betroffene brauchen Erholungspausen, in denen sie Kraft und neue Energie tanken können, das fehlt im Moment. Schliesslich leiden Betroffene, welche in «normalen Zeiten» auf Unterstützung und Strukturen angewiesen sind, sehr unter der aktuellen Situation. 

Mit welchen Problemen suchen Betroffene in der aktuellen Situation bei Ihrem Team Unterstützung?
Die Unsicherheit, wie es weitergeht, belastet alle, nicht nur Menschen mit Hirnverletzung. Weil Menschen mit einer Hirnverletzung häufig besonders stark auf Routinen und geregelte Abläufe angewiesen sind, ist diese Situation jedoch für Betroffene besonders schwierig. Ganz konkret kommen daher viele Betroffene zu uns, die Hilfe im Aufbau der neuen Strukturen und Routinen brauchen. Wie gestalte ich den Alltag, wie mache ich es mit dem Einkaufen, der Kinderbetreuung etc. Betroffene suchen auch Unterstützung im Umgang mit ihren Sorgen und Ängsten, beispielsweise in Bezug auf ihre berufliche Integration, Arbeit oder ihre Gesundheit.

Kommen Betroffene jetzt häufiger zu Ihnen als in «normalen» Zeiten?
Es gibt viele, die dank eines für sie derzeit «verlangsamten» oder «zurückgezogenen» Lebens keine oder kaum Unterstützung brauchen. Dann gibt es andere, für die wir aktuell deutlich mehr da sind, weil sie konkrete Hilfe oder Unterstützung im Alltag brauchen oder psychisch in einer schwierigen Situation sind. Mit diesen Betroffenen sind wir häufiger im Kontakt, per Telefon oder Video und wenn es nötig ist, auch fast täglich.

Ich finde es ganz wichtig, dass professionelle Angebote in irgendeiner Form aufrechterhalten bleiben. Dazu braucht es sicher auch kreative und vielleicht ungewöhnliche Ideen. So haben wir zum Beispiel eine FRAGILE-Gesprächsgruppe mit sieben Teilnehmenden per Video durchgeführt. Dies war für alle ein schönes Erlebnis, auch wenn es wahrscheinlich anstrengender war, als wenn man sich direkt gegenübersitzt.

Viele Veranstaltungen sind abgesagt, den Menschen fehlt der Austausch mit anderen. Wie können diese sich in der jetzigen Zeit selber helfen?
Sofern möglich ist es sicher hilfreich, wenn die Teilnehmer von Gesprächsgruppen untereinander Kontakt halten und sich austauschen können. Auch ermuntere ich Betroffene, persönliche Kontakte zu pflegen, per Telefon oder auch mal mit dem Nachbarn, sofern die Distanzregeln eingehalten werden. Weiterhin hat FRAGILE Suisse auf ihrer Website viele gute Informationen zum Thema aufgeschaltet. Auch die Plattform für psychische Gesundheit «Dureschnuufe» oder die Angebote der «Selbsthilfe Schweiz», die speziell zum Thema Coronavirus entwickelt wurden, sind hilfreiche Angebote.

Was raten Sie allgemein, damit einem während solcher Krisen die Decke nicht auf den Kopf fällt?
Es ist sicher von Vorteil, wenn man die Struktur im Alltag einigermassen aufrechterhält. Es muss nicht ein starrer Tagesablauf sein, aber es kann hilfreich sein, wenn man eine Idee hat, wie man den Tag gestaltet. Ebenfalls wichtig ist, dass man auf sich selber hört und Dinge tut, die einem Wohlbefinden verschaffen. Ich empfehle auch, dass man sich vor zu viel Information über Corona schützt. Natürlich soll man sich über das Geschehen informieren, aber zeitlich eher beschränkt, damit man nicht überflutet wird.

Irgendwann ist die Ausnahmesituation wieder vorbei. Wie finden wir möglichst gut den Weg in die Normalität zurück?
Man muss sich bewusst sein, dass man nicht von heute auf morgen auf «Normalzustand» hochfahren kann. Körper und Geist brauchen Zeit, sich wieder einzufinden. Entsprechend ist es wichtig, dass man sich nicht überfordert. Es kann helfen, sich schon während der Krise einige Gedanken darüber zu machen. Was ist mir wichtig? Was kann ich aus der Corona-Zeit mitnehmen, was mir auch im «normalen» Leben wichtig ist? Vielleicht hat man auch schöne Dinge entdeckt, die man im normalen Alltag einbauen möchte.

Interview: Carole Bolliger

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