«Zeit ist bei der Wiedereingliederung ins Arbeitsleben ein grosses Problem»

Oft haben Betroffene nach einer Hirnverletzung Probleme bei ihrer Arbeit. Welche diese sind und mit welchen Herausforderungen sowohl Betroffene als auch Arbeitgeber zu kämpfen haben, erklärt Priska Fritsche.

Oft haben Betroffene nach einer Hirnverletzung Probleme bei ihrer Arbeit. Welche diese sind und mit welchen Herausforderungen sowohl Betroffene als auch Arbeitgeber zu kämpfen haben, erklärt Priska Fritsche.

Quelle: Pixabay

Priska Fritsche ist Bereichsleiterin Berufliche Integration IV-Stelle Schwyz, Berufsberaterin und Vorstandsmitglied von FRAGILE Suisse.

Viele Betroffene streben nach ihrer Hirnverletzung eine Rückkehr zu einer geregelten Arbeit an. Doch nicht wenige erleben mit der Zeit Probleme bei der Arbeit, verlieren die Stelle. Was sind die Hauptprobleme, dass es so weit kommt?

Eines der Hauptprobleme ist der Faktor Zeit. Betroffene wie Arbeitgeber gehen in der Regel von einer viel schnelleren Erholung aus, als in der Realität der Fall ist. Das heisst, die Erwartungen sind auf beiden Seiten hoch, die Enttäuschung gross, wenn es dann doch nicht so schnell vorwärtsgeht. Häufig dauert die medizinische und berufliche Rehabilitation nach einer Hirnverletzung länger, als im Krankheitsfall beispielsweise Krankentaggelder ausbezahlt werden können. So kann es seitens Arbeitgeber zu einer Kündigung kommen, weil die Leistung der betroffenen Person noch keinen vollen Lohn rechtfertigt, vielleicht sogar jemand Zusätzliches eingestellt werden musste, um die Arbeit zu erledigen. Kurz, der Arbeitgeber kann sich den Mitarbeitenden mit Hirnverletzung schlichtweg nicht mehr leisten.

Ein weiteres Hauptproblem entsteht häufig dadurch, dass jemand nach einer Hirnverletzung nicht mehr über die gleichen Fähigkeiten verfügt wie vorher, sich allenfalls auch in der Persönlichkeit verändert hat. Sehr typisch ist beispielsweise eine verminderte Belastbarkeit, die eine Reduktion des bisherigen Pensums erfordert. Häufig ist zusätzlich das Arbeitstempo nach einer Hirnverletzung verlangsamt, was die Leistung insgesamt ebenfalls reduziert. Je nachdem kommen noch weitere sicht- und spürbare wie auch weniger offensichtlich Folgen der Hirnverletzung hinzu, die sich negativ auf die berufliche Leistungsfähigkeit auswirken. An manchen Arbeitsplätzen sind Anpassungen möglich wie Reduktion des Arbeitspensums, weniger Zeit- und Leistungsdruck, weniger Verantwortung, mehr Unterstützung durch andere. Wo das nicht möglich ist, kommt es zwangsläufig irgendwann zur Trennung.

Was sind für den Betroffenen die Herausforderungen, wenn er nach einer Hirnverletzung in die Arbeitswelt zurückkehrt?

Ich habe häufig erlebt, dass Betroffene nach einer Hirnverletzung einfach wieder dort anknüpfen wollten, wo sie aufgehört hatten und sich mit der Zeit in eine völlige Erschöpfung hineinmanövriert haben. Die grosse Herausforderung ist also festzustellen und anzuerkennen, dass man nicht mehr das Gleiche leisten kann wie vor der Hirnverletzung. Entweder weil man mehr Erholung benötigt oder weil man in der Arbeitsausführung an Grenzen stösst. Beispiele für Alltagsanforderungen, die allenfalls nicht mehr funktionieren: Gesprächen in grösseren Runden folgen, bei einem Telefongespräch gleichzeitig zuhören und Notizen machen, sich Abläufe merken, in einem Produktionsprozess mithalten, visuelle und akustische Reize ausblenden.

Manche Folgen von Hirnverletzungen verhindern von Anfang an eine Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz. Beispiele: Hemiplegien/Hemiparesen verunmöglichen eine Tätigkeit, die beide Hände erfordert, eine Aphasie verunmöglicht eine fliessende Kommunikation in Berufen, in denen die Kommunikation im Vordergrund steht, wegen Gesichtsfeldausfalls oder Epilepsie darf jemand keine Fahrzeuge mehr führen oder nicht an gefährdenden/gefährdeten Arbeitsplätzen (wie Bau) arbeiten u. ä.

Eine Umschulung erfolgreich bewältigen zu können, gelingt aber oft ebenfalls schlecht, weil Hirnverletzungen nebst den oben beschriebenen konkreten Folgen auch globale Folgen wie Fatigue, Kopfschmerzen, neuropsychologische Defizite (Konzentration, Auffassung, Gedächtnis, exekutive Störungen, Tempo) etc. verursachen. Das Erlernen von neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten in Theorie (Schule, Lehrverhältnis) und Praxis (Einarbeitung an einem neuen Ort) ist dadurch enorm erschwert und braucht erneut viel Zeit, Geduld, Wiederholungen und eine verständnisvolle Umgebung.

Eine grosse Herausforderung für und mit Hirnverletzungen ist, Geduld zu haben, sich Zeit zu geben. Eine weitere grosse Herausforderung ist die Anerkennung der eigenen Einschränkungen und die Bereitschaft, im Berufsleben Anpassungen vorzunehmen. Das sagt sich einfacher, als es ist. Junge Betroffene hatten vielleicht ehrgeizige Pläne, ein Studium, nächste Karriereschritte geplant. Sie wollten Geld verdienen, um reisen zu können, eine Familie zu gründen. Betroffene mit Führungsverantwortung, einer selbstständigen Tätigkeit verlieren vielleicht ihr Unternehmen oder ihren Status. In der Schweiz ist Arbeit enorm wichtig. Viele Betroffene definieren sich stark über Arbeit und Leistung, verlieren ihr Selbstwertgefühl und bekommen zusätzlich psychische Probleme, wenn sie nicht mehr gleich wie vor der HV tätig sein können.

Erwartungen und Leistungsdruck aus dem Umfeld können erschwerend hinzukommen. Selbst wenn Betroffene ihre eigenen Einschränkungen erkennen und anerkennen können, heisst das– vor allem im Falle von unsichtbaren Folgen – nicht, dass dies auch bei Vorgesetzten und Arbeitgebern der Fall ist.

Was sind die Herausforderungen/Schwierigkeiten für einen Arbeitgeber?

Arbeitgeber, die noch nie mit der Thematik HV konfrontiert waren, haben oft zu wenig Wissen über Hirnverletzungen und dadurch zu hohe Erwartungen an die Geschwindigkeit und die Vollständigkeit der Gesundung. Sie haben manchmal monatelang auf die Rückkehr einer betroffenen Person gewartet. Während der Abwesenheit des oder der Betroffenen mussten andere die Arbeit übernehmen. Verständlicherweise hoffen alle, dass sie nun wieder entlastet werden von diesem Zusatzaufwand. Zu merken, dass das nicht so ist oder sogar ein erhöhter Betreuungsaufwand entsteht, kann sehr frustrierend sein und Unmut in einem Team auslösen. Auch ein Arbeitgeber braucht also viel Geduld im Umgang mit einem Mitarbeiter mit HV. Es braucht allenfalls Kreativität, um Anpassungen am Arbeitsplatz vorzunehmen, die für alle stimmen.

Was raten Sie Arbeitgebern? Worauf sollten sie achten? Was ist wichtig?

Es gibt Menschen, die erholen sich gut von einer Hirnverletzung. Hier rate ich zu einer gewissen Vorsicht und einer sorgfältigen Steigerung von Pensum und Aufträgen nach Rückkehr an den Arbeitsplatz. Nicht zu schnell zu viel wollen ist das Erfolgsrezept in solchen Situationen. Letztlich geht es auf diese Weise schneller und nachhaltiger. Zu rasches Vorgehen birgt die Gefahr von Rückfällen.

Harzt es beim Wiedereinstieg, zeigen sich immer die gleichen Schwierigkeiten beispielsweise inhaltlicher Art, häufen sich Fehler, gelingt die Steigerung der Präsenzzeit nicht oder kommt es gar zu Krankheitsausfällen, empfehle ich die Kontaktaufnahme mit der IV. Die IV kann präventiv tätig werden, mit Beratung aufklären oder mit Massnahmen den Verbleib am Arbeitsplatz unterstützen (wie beispielsweise Coaching, Taggelder). Kommt es zu einer Trennung, können seitens IV weitere Unterstützungsmöglichkeiten geprüft werden von beruflichen Eingliederungsmassnahmen bis zu finanzieller Absicherung mittels Rente.

Mein Ratschlag:

  • Erwartungen reduzieren: Nur weil ein Mitarbeiter mit Hirnverletzung wieder da ist, ist er noch nicht wieder voll einsatzfähig.
  • Genau hinschauen: Wer genau hinschaut, wie es einem Mitarbeiter mit Hirnverletzung geht, weiss, wo Unterstützungsbedarf besteht und hat Argumente für den Beizug von Fachleuten.
  • Offen kommunizieren: Ansprechen, wo Schwierigkeiten liegen, hilft den Betroffenen, sich besser kennenzulernen und sich zu verbessern. Nichts zu sagen, um jemanden zu schonen in der Hoffnung, dass sich das Problem von selber löst und die betroffene Person dann irgendwann schon von selber wieder da hinkommt, wo sie mal war, das nützt nichts. Das passiert mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht.
  • Frühzeitig Unterstützung beiziehen: Das können therapeutische Fachleute sein (Ergotherapie, Neuropsychologie), Versicherungsfachleute (Unfallversicherung, Krankentaggeldversicherung, Invalidenversicherung) und Eingliederungsfachpersonen. Wenn zu viel Zeit verstreicht, kann es sein, dass sich innerbetrieblich zu viel Frust aufstaut und dass der/die Betroffene ohne Einkommen dasteht, wenn es vielleicht irgendwann zu einer Trennung kommt. 

Je nach Hirnverletzung und Folgeschäden kann ein Betroffener nicht in seinen alten Job zurück, zum Beispiel als Busfahrer. Welche Möglichkeiten gibt es für solche Menschen?

Wenn jemand aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr im bisherigen Aufgabenbereich tätig sein kann, ist in der Regel die Invalidenversicherung zuständig. Bei unfallbedingten Hirnverletzungen ist zudem die jeweilige Unfallversicherung involviert. Seitens der Versicherungen können Fachpersonen für berufliche Eingliederung mit verschiedenen Arten von Massnahmen die berufliche Reintegration unterstützen. Es gibt zum Bespiel Integrationsmassnahmen zum Aufbau der Belastbarkeit oder Berufsberatung zur Unterstützung beim Finden eines neuen Berufsweges. Geprüft wird etwa, ob jemand in anderer Funktion beim bisherigen Arbeitgeber bleiben kann. Oder es wird Unterstützung geboten bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt. Zum Teil existiert immer noch ein altes Bild der IV im Sinne von "IV-Anmeldung = IV-Rente". Dem ist mitnichten so. Die IV verändert sich immer mehr von der Rentenversicherung zur Eingliederungsversicherung. "Eingliederung vor Rente" ist die oberste Maxime und es wird viel unternommen, um Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wenn es die gesundheitliche Situation aber erforderlich macht, dass eine Rente gesprochen wird, gehört es oft auch zu den Herausforderungen von Menschen mit Hirnverletzung, zu akzeptieren, dass bei allem Willen und aller Motivation und allem Einsatz die Gesundheit Grenzen setzt und halt einfach nicht mehr möglich ist.

Interview: Carole Bolliger

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